Straßenbahnfahrerin II

Erzählung zum Thema Beobachtungen

von  tulpenrot

Mühselig kam sie daher, schleppte sich mit letzter Kraft Schritt um Schritt vorwärts, als ob sie seit Jahren nicht ausgeruht hätte. Nicht ein Stock stützte sie beim gehen, sondern ein Stuhl, ein schwerer Holzstuhl war ihre Gehhilfe. Er krächzte auf dem Bahnsteigpflaster, wenn sie ihn zentimeterweise vor sich hinschob. Anheben konnte sie ihn offenbar nicht. Immer wieder hielt sie inne und stützte sich ermattet auf die Stuhllehne. Kaum jemand nahm Notiz von ihren Schmerzen, ihrer Schwäche – oder war sie verrückt?
Der Weg bis zur Wartebank erschien endlos und als sie sie schließlich erreichte, nahm sie den Sitz ihres hölzernen Stuhles als Stütze, die Stuhllehne überragte ihren Kopf. Und so vornübergebeugt verharrte sie in verkrampfter Reglosigkeit.
Es sah aus, als würde sie nie wieder aufstehen können.
Zwei hilflose Versuche machte sie, um sich zu erheben. doch jedes Mal sank sie matt zurück auf ihre Bank.
Wie würde sie je die Straßenbahn erreichen, die jetzt mit hoher Geschwindigkeit einfuhr, meterweit entfernt von dieser erbärmlichen Gestalt mit dem Stuhl?
Die Menschen stiegen aus und ein, liefen eiligen Schritts dahin und dorthin. „Helfen Sie mir!“ tönte die Stimme der gebrechlichen Frau. „Halten Sie die Straßenbahn auf!“ rief sie noch lauter. Sie war aufgestanden, schob ihren Stuhl wieder vor sich her und konnte doch kaum vorankommen.
Im Innern des Straßenbahnwaggons hielt eine Frau die Tür auf, sodass der Wagen nicht abfahren konnte. Der scharrende Stuhl, die mühseligen Gehversuche der Frau waren so unerträglich und dennoch schien keiner der Passanten zu wissen, was man tun sollte. „So helfen Sie mir doch!“ rief sie verzweifelt. Der junge Mann war schon an ihr vorbei gegangen, aber dann besann er sich offenbar, drehte sich um, nahm der Frau den Stuhl ab und stellte ihn in die offene Straßenbahn. Langsam kam die Frau  nach, Seltsam – sie konnte gehen ohne Stuhl. Sie ereichte die Straßenbahn und wurde mitgenommen.
Welch eine Art von sozialem Hilfssystem herrscht in diesem Land? dachte ich. Eigeninitiave und Mitmenschlichkeit, wären das die Grundpfeiler?

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Kommentare zu diesem Text

steinkopf73 (34)
(16.02.07)
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