Die Flusskinder (Teil 2)

Parabel zum Thema Streit

von  tulpenrot

Es gab noch eine zweite Brücke, an die niemand mehr dachte. Die Leute im Osten dachten noch nie daran und wir im Westen hatten sie vergessen. Es war der Regenbogen, der immer am Himmel stand und die Leute daran erinnern sollte, dass Gott das Land und die Menschen segnen wollte: die Kinder und die Alten und die Jungen, die Einsamen und die Kranken und die Fröhlichen.
Der Regenbogen war eines Tages verschwunden. Keiner hatte es bemerkt und keinem war es aufgefallen. Wer guckt denn auch schon an den Himmel?

Der Bäcker nicht, weil er meistens in den Ofen nach dem Brot und dem Kuchen schaut und nach dem Bäckerjungen.
Der Feuerwehrmann nicht, denn er muss aufpassen, dass kein Feuer in der Scheune brennt.
Der Bauer nicht, weil er im Stall zu tun hat und aufs Feld fahren muss.
Der Lehrer nicht, weil er in den Büchern liest und an die Tafel schreibt. Der Schneider hatte auch kein Auge dafür, er war zu arm und schon zu alt.

Der Doktor aber dachte manchmal daran, dass er in Kindertagen den Regenbogen gesehen hatte. Aber die Erinnerung daran war so blass, dass er nicht sicher war, ob es nicht nur ein Traum war. Vielleicht hatte es den Regenbogen gar nie in Wirklichkeit gegeben, dachte er. Aber er sehnte sich manchmal danach, sich wieder geborgen und sicher zu fühlen wie damals, als er an Gott dachte. Aber inzwischen war er ein erwachsener Mann geworden und hatte viel gesehen und deswegen meinte er, er könne nicht mehr träumen wie in Kindertagen.

Als unsere Brücke eines Morgens brannte, war es für niemanden etwas Besonderes. Wir standen alle von Ferne und beobachteten das Feuer, damit es nicht auf unsere Scheunen kam und unsere Häuser. Ich dachte zwischendrin ein wenig  an Tremge und an die Bücher des Lehrers in den Büschen am Ende der Brücke. Tremge sah ein bisschen weiß um die Nase aus, als ich ihn beobachtete. Aber da die Brücke aus Holz war, hatte sie so schnell Feuer gefangen, dass niemand mehr recht wusste, ob sie im Westen oder im Osten angefangen hatte zu brennen. Und Tremge sagte auch kein einziges Wort.

Der Feuerwehrmann ließ sich Zeit, baute umständlich die Schläuche zusammen und richtete sie auf das Feuer. Aber wie groß war das Gelächter, als eine rote Brühe herausschoss.
Ihr wisst ja, warum das so war.
Noch ehe die Sonne richtig aufgegangen war, krachte die Brücke mit einem gewaltigen Getöse zusammen und fiel in den Fluss.

In der nächsten Zeit dachte niemand daran, sie wieder neu aufzubauen. Jeder war froh, den Streit auf diese Weise los zu sein. Schließlich konnte man sich jetzt nicht mehr treffen und böse Worte sagen.
Lieber erzählte man sich abends auf den Bänken vor den Häusern merkwürdige Geschichten über die Leute am anderen Ufer des Flusses.
"Die schlachten Regenwürmer", sagte man. Oder "Sie braten Raupen." Oder "Sie haben nur löchrige Kleider, weil sie keinen Schneider haben."

Und man erzählte sich merkwürdige Dinge über Gott, weil sie ihn nicht mehr kannten.
"Gott war ein alter Mann. Der ist schon lange tot", sagten sie.

Die Mütter ärgerten sich über ihre Kinder, die nur noch zu Hause Unsinn machten und nicht mehr zur Schule gingen, weil der Lehrer auf der anderen Seite des Flusses wohnte.

Im Westen musste man das Brot selber backen, aber es verbrannte sehr oft im Ofen, weil der Bäcker auf der anderen Seite des Flusses wohnte.

Niemand konnte mehr frische Milch und Käse kaufen, weil der Bauer auf der anderen Seite des Flusses wohnte.

Die Kleider wurden nicht mehr richtig repariert, weil der Schneider auf der anderen Seite des Flusses wohnte.

Wenn es im Osten irgendwo brannte, kam keine Feuerwehr, weil die Feuerwehr auf der anderen Seite des Flusses wohnte.

Die Kühe im Osten waren krank, weil der Doktor auf der anderen Seite des Flusses wohnte.
Und für die kranken Menschen war auch niemand da.

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