Jahresrückblick

Satire zum Thema Jahreswechsel/ Silvester

von  JoBo72

Das ist ein ganz persönlicher Jahresrückblick. Wer also hier sachlich-fachliche Analysen zu G8, Hartz-IV oder Basel II erwartet, sollte nicht weiterlesen. Geschildert werden die unmaßgeblichen Erfahrungen eines unbedeutenden Wahl-Hauptstädters.

JANUAR. Ein Sturm fegt über Deutschland: Heiner Brandt. Der sympathische Handball-Bundestrainer, der in den Auszeiten eher wie ein Polier auf der Baustelle wirkt („Jungs, dat schafft ihr!“) erreichte, was den drei Vorzeige-Schwiegersöhnen im populären Rasensport verwehrt blieb: Weltmeister sein!

FEBRUAR. Und weiter ging’s: Ein Deutscher gewinnt den Oscar in der von unseren US-amerikanischen Cineasten-Freunden netterweise eingerichteten Kategorie „ausländischer Film“! Richtig so, sollen auch mal die anderen gewinnen! Nicht so wie beim Biathlon.

Katastrophen wie „Kyrill“ und Filme wie „Das Leben der Anderen“ treffen sich ja im Genre des Katastrophenfilms. Wir alle kennen Katastrophenfilme à la Hollywood. Die gehen so: 1. Etwas (i.d.R. Außerirdisches) droht, die Erde zu zerstören. 2. Eine junge, hübsche Journalistin, die privat Probleme mit ihrem heroinsüchtigen Großneffen hat, kommt dahinter und informiert die Öffentlichkeit (Keiner glaubt ihr - Frau!). 3. Die Bedrohung nimmt zu. 4. „Oh, mein Gott, rufen sie den Präsidenten!“ 5. Die US-Streitkräfte retten den Planeten. 6. Bei der Rettungsaktion kommen extrem teure Computeranimationen zum Einsatz, die pickelige Praktikanten in Nachtarbeit bei Dosenbier und „Pizza mista“ (nimm zwei, zahl eine) programmiert haben. 7. Bei der Rettungsaktion opfert sich einer der Soldaten (Tom Cruise). 8. Die Frau des sich opfernden Soldaten steht mit dem 2jährigen Kind im Arm umgeben von ranghohen Militärs auf der Kommandobrücke und weint. 9. Einer der Militärs legt ihr väterlich die Hand auf die Schulter und sagt: „Sie können stolz sein auf ihren Mann.“ 10. Die Frau sagt nicht etwa: „Leck mich am Arsch!“, sondern dreht ihm langsam den Kopf zu und nickt bedächtig. 11. Der Präsident heiratet die Journalistin. 12. Der Kinobesucher verlässt – intentional konditioniert - den Saal mit dem Gedanken: „Wozu brauchen wir die UNO? Bei diesem Präsidenten!“

Wie gesagt, das kennen wir. Was wir vielleicht noch nicht kennen, sind Katastrophenfilme à la Lateinamerika: 1. Etwas (i.d.R. Außerirdisches) droht, die Erde zu zerstören. 2. Eine junge, hübsche Journalistin kann leider nicht dahinter kommen, weil sie bei ihren fünf Nebenjobs als Kellnerin, Rezeptionistin, Englisch-Lehrerin, Bar-Frau und Verfassungsrichterin keine Zeit für Recherchen hat. Sie geht mit einem Bericht über die Luftverschmutzung in Lima an die Öffentlichkeit (Keiner glaubt ihr - Frau!). 3. Die Bedrohung nimmt zu. 4. „Oh, mein Gott, rufen sie den Präsidenten!“ 5. Der Präsident ist nicht da, die Streitkräfte auch nicht. Die Soldaten, die nicht im Urlaub sind, bereiten gerade einen Putsch vor oder kämpfen gegen die Soldaten eines anderen Landes um ein paar Quadratkilometer Regenwald. 6. Für die Rettungsaktion werden Guerilleros (Kolumbien) vorbereitet, die sich aber nicht auf einen Anführer (Commandante) einigen können. 7. Die Außerirdischen landen auf der Erde zerstören Nordamerika, Europa und Japan. 8. In Lateinamerika bleiben die Touristen aus. 9. Die Journalistin hat endlich Zeit, ihrer Arbeit nachzugehen. 10. Anstelle der Touristen kommen die Außerirdischen nach Lateinamerika, was aufgrund der Verhaltenskongruenz zunächst nicht weiter auffällt („You want a Dollar? Show me your tits and I give you ten!“ – „John, please!“). 11. Die Journalistin muss wieder an die Bar und stellt sich die Sinnfrage („Dafür hab’ ich Habermas gelesen!? Auf deutsch!“), während die Außerirdischen das Chaos in dem jüngst eroberten Gebiet zunehmend problematisieren („Noch nicht mal Klopapier!“ – „Und dann die Luft – meine Güte!“). Sie schnappen sich ein paar Frauen und Salsa-CDs und verschwinden wieder. Der Planet ist gerettet. 12. Der Kinobesucher verlässt – intentional konditioniert - den Saal mit dem Gedanken: „Wozu brauchen wir die UNO? Bei diesen Außerirdischen!“

MÄRZ. Harry Potter soll sterben. Zumindest soll, folgt man den „breaking news“ auf CNN, Band 7 der letzte sein. Also, ich finde das doof. Ich fände es besser, wenn Harry in Band 8 eine Ausbildung zum Parfümeriefachverkäufer beginnt. Oder, wenn es denn sein muss, nach der Zauber-Schule wenigstens auf die Zauber-Uni geht. Die bietet aber zu seinem Leidwesen nur noch Crash-Kurse an, weil die Zauber-Wirtschaft das so will. Die „Verteidigung gegen die dunklen Mächte“ war früher ein 15semestriges Bummelstudium, heute ist es, als „Dark Power Defense“ eingedampft auf den Anti-Terror-Krieg, ein 2jähriger Bachelor-Lehrgang mit „hervorragenden Berufsaussichten in der Politikberatung“ („Der Zauber-Alumnus“). Harry gründet mit Ron (Informatik) und Hermine (Ethnologie, Gender-Studies und – „wegen Papa“ – BWL) die „Trias des kommunikativen Handelns“, die sich a) für die Unsterblichkeit Habermas’ einsetzt und sich b) weigert, den zauberhaft-jugendlichen Idealismus freier Forschung und den uneingeschränkten Bildungsoptimismus eines Dumbledore oder Humboldt irgendwelchen voldemortesken „Zauber-Sachzwängen“ unterzuordnen. Selbstverständlich muss/soll/darf/kann auch Dauerrivale Draco Malfoy dabei sein (Jura, Fachhochschule Witten-Herdecke). Dann hätte man auch die Möglichkeit, Fortsetzungen zu schreiben. Harry Potter (Band 9) – Willkommen in der Wirklichkeit: Harry Potter geht einkaufen und wartet 20 Minuten an der einzig offenen Supermarktkasse. Als er dran ist, wird die zweite Kasse aufgemacht („Sie können auch hier rüber kommen!“). Am defekten Pfandautomat nützt Harry Potter sämtliche Zauberkunst nichts und Hausmeister Hermann („Das Fahrrad kann hier aber nicht stehen bleiben!“) doziert ungefragt über Mülltrennung. Harry versucht seine Steuererklärung anzufertigen. Bis zur Anlage V geht alles gut. Sein Steuerberater Dr. Strakenbüschler (Brat Pitt) erklärt ihm den Unterschied zwischen degressiver und linearer Abschreibung. Sie werden Freunde. Doch sie haben die Rechnung ohne Finanzamtfiesling Heinz-Günther Oberholm (Orlando Bloom) gemacht, der es wiederum mit Gertrud Förster (Jodie Foster) und Karl Peters (Johnny Depp) von der Innenrevision zu tun bekommt. Und dann: Harry Potter (Band 10)... aber, na ja, wird wohl nix. Schade!

APRIL. Es ist heiß. Klimawandel?

MAI. Das neue Telefonbuch erscheint. Selten ist die Vereinzelung des postmodernen Menschen so prägnant auf den Punkt gebracht worden. Subjekt neben Subjekt, ohne jede Beziehung. Untereinander, miteinander, zueinander. Ekel, Elend, Einsamkeit. Grundbefinden des Schalke-Fans im Frühsommer.

JUNI. Ich stelle mein neues Manuskript dem Verleger vor. Titel: „Die Metaphysik der fundamentalontologischen Apotheose in der bulgarischen Neoscholastik“. Er lehnt ab. Der Titel verkaufe sich nicht. Er schlägt vor, das Buch „1000 nackte Weiber“ zu nennen. Diesmal bin ich es, der Bedenken hat. Wir einigen uns auf „Harry Potter und die Metaphysik der fundamentalontologischen Apotheose in der bulgarischen Neoscholastik“. Das Buch ist nach drei Tagen vergriffen. In der zweiten Auflage nehmen wir eine Zielgruppendifferenzierung vor (Ossis: „Harry Potter und das Geheimnis des Arbeitsamts“; Wessis: „Harry Potter und das rätselhafte Ferienhaus auf Sylt“, Frauen: „Harry Potter will nur reden“, Männer: „Harry Potter und die blonde Brauereibesitzerin mit dem Premiere-Abo“).

JULI. Jemand, der sich als „Deutsche Telekom“ vorstellt, will wissen, was ich für meinen Telefonanschluss bezahle. Im Monat. „Bald gar nichts mehr, wenn es so weiter geht...“ Ich lege auf. Eine halbe Stunde später klingelt das Telefon wieder. Ich, „Glückspilz“, habe gewonnen. Irgendein Auto der Mittelklassenkategorie, ich müsse nur noch... Ich lege auf, bin mäßig genervt. Wieder klingelt’s. Soll ich? Und wenn’s was Wichtiges ist? Ich gehe ran. Es sei was wichtiges: Es gehe immerhin um meine Altersvorsorge. Ich schreie den armen Call-Center-Agenten an, dass ich, geht es so weiter, so alt gar nicht werde! Den Rest des Tages bin ich verärgert und ziehe mich, mit Gehörschutzstöpseln, ins Bett zurück. Morgen geht’s weiter. In jeder Beziehung.

„Morgen“ ging es tatsächlich weiter. „Hallöle, Versicherung V am Apparat!“ Ich spielte den Radprofi: Ich bestritt, dass der Anrufer von Versicherung V ein Anrufer von Versicherung V ist („Das ist ganz unmöglich!“). Ich leugnete die Existenz eines Telefons und eines Call-Centers. Man fragte mich nach meinem Namen. Ich gab vor, diesen nicht zu kennen (Grund: Der letzte Blick auf die Geburtsurkunde liegt zu lange zurück.). Ich drohte nach jedem Hauptsatz mit meinem Anwalt, nach jedem Nebensatz brach ich in Tränen aus. Ich sagte (unter Tränen), dass ich das vertriebene Produkt („Kapitallebensversicherung“) nicht kenne. Ich wisse nicht einmal, was „Leben“ sei. Alles andere auch nicht. Als der Anrufer aufzulegen drohte, bestand ich darauf, mindest einmal täglich angerufen zu werden. Alles andere sei diskriminierend und ein Verstoß gegen die Genfer Konvention. Richtig: Tränen!

AUGUST. Es regnet. Klimawandel!

SEPTEMBER. Ich befinde mich auf einer Vortragsreise in Peru. Es war schon komisch, die Reaktion der Menschen dort, genauer: auf meine Einlassung, ich käme aus Deutschland. Nicht wie sonst: „Ah... Deutschland: Hitler, Beckenbauer, Volkswagen!“ Sondern: „Ah... Knut!“

OKTOBER. Der Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt erreicht auch Branchen, die sich das nie hätten träumen lassen: die Geisteswissenschaften. Gesucht wurde zum 01.11.2007 eine Philosophin / einen Philosophen (mit Promotion) für eine „anspruchsvolle Tätigkeit in einer unserer Filialen“. Wir bieten: Volle Paletten zum In-die-Regale-räumen, eine Menge Leergut, ein nettes Team. Ihr Profil: - Sie handeln stets so, dass Sie jederzeit wollen können, die Maxime ihres Willens werde zur Grundlage eines allgemeinen Gesetzes. - Sie betrachten objektive Zwecke im kausal determinierten Bereich theoretischer Erfahrung als regulative Naturidee des empirischen Subjekts. - Sie verfügen über Führerschein Klasse 3.

Toll! Und das beste ist, es gibt auch neue Jobs und neue Hoffnung für den Osten: Das Ausbildungszentrum Luckenwalde sucht Hauptschulabsolventen für eine Ausbildung ab 01.01.2008 zur/zum Rassistin / Rassist (mit Spezialisierungsmöglichkeit zum Rassist im Fußballstadion, Stammstischrassist, latenter Rassist in der SPD Brandenburg). Und auch das „Als die Mauer noch stand“-Institut für Reminiszenzkunde sucht zum 01.12.2007 neues Personal: eine(n) Wehklägerin / Wehkläger. Voraussetzung: Sie sind über 60, haben ein Hochschulstudium abgeschlossen (Marxismus-Leninismus), sprechen fließend russisch und gerne über andere Leute, jammern bei jeder Gelegenheit und jeder dritte Satz beginnt bei ihnen mit „Aber, vor der Wende...“. Dann haben wir den idealen Job für Sie!

NOVEMBER. Wo wir gerade beim Thema sind... Der Mauerfall wird volljährig. Ich nehme an einer Gedenkveranstaltung zum Thema „18 Jahre Freiheit“ in Freienfelderode (Brandenburg) teil. Es sprach der Bürgermeister von Freienfelderode: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, und selbstredend auch alle Gäste aus dem In- und Umland unserer wunderbaren brandenburgischen Heimat in unserer kleinen Gemeinde. Ich begrüße Sie zu einer Feierstunde ganz besonderer Art: Wir feiern heute ein historisches Ereignis, das für uns alle vor gar nicht allzu langer Zeit noch ein unvorstellbarer Traum gewesen war. Allein dem Mut und der Tapferkeit unserer Landsleute in Leipzig, Dresden, Berlin, Rostock und anderswo in den neuen Länder unseres vereinigten Vaterlandes haben wir es zu verdanken, dass es heute zu diesem wundervollen Jubiläum kommt. Die unblutige bürgerliche Bewegung von der Ostsee bis zum Erzgebirge, von Helmstedt bis Frankfurt/Oder gipfelte schließlich in diesem unsagbar schönen Ausdruck der neu gewonnenen Freiheit, dessen Gründungsdatum sich heute zum achtzehnten Male jährt. Meine Damen und Herren, 18 Jahre Sexshop „Neuruppiner Landstraße“, das ist nicht irgendein Jubiläum, es ist ein Jubelfest der Freiheit! Es ist diese Freiheit, die jene Menschen meinten, die 1789 die Bastille von Paris erstürmten, jene Freiheit, welche im 19. und 20. Jahrhundert die Völker Afrikas und Lateinamerikas nach Jahrhunderten kolonialistischer Tyrannei bei ihren großen Befreiungskriegen vor Augen hatten und auch die Freiheit, die am 9. November 1989 zum Ausdruck kam, als auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor freie Bürger aus Ost und West nach der friedlichsten Revolution der Menschheitsgeschichte tanzten und feierten, genau die Freiheit also, die sich von nichts und niemandem unterdrücken lässt! Es ist dieser unbändige Drang, diese tiefe Sehnsucht nach dem, was unser Grundgesetz so herrlich treffend mit dem Passus „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ bezeichnet: Pornos. Welch’ Wunder, dass auch wir nun endlich teilhaben können an den kulturellen Errungenschaften des vormals so verhassten Kapitalismus! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Wünsche Ihnen noch viel Vergnügen bei unserer Geburtstagsfeier - 18 Jahre Sexshop „Neuruppiner Landstraße“. Das Büffet ist eröffnet!

DEZEMBER. Ende des Jahres. Zäh fließen die Gedanken durch das glühweingetränkte Gehirn. Ist es das Ende? Wie ist es, wenn es das Ende ist? Man recherchiert: Im Hinduismus gibt es kein Ende. Es geht immer weiter. Bis mal wirklich was schlimmes passiert. Dann ist das Geschrei wieder groß und keiner will’s gewesen sein. Im Buddhismus gibt es nur dann ein Ende, wenn alle Menschen jeden möglichen Läuterungsprozess durchlaufen haben, den es so gibt. Wenn dann jeder einen „anständigen Beruf hat, mit dem sich auch noch vernünftig verdienen lässt, zum Beispiel Bürokommunikationskauffrau“ (Buddha, Schriften), dann kommt man in einen Zustand ewig währender Selbsttranszendierung, der „sich etwa
so anfühlt, als wenn man besoffen vögelt und im Hintergrund läuft Pink Floyd“ (Buddha, Frühe Schriften). Aus der Esoterik-Bran... äh...Bewegung kommt folgende Vorstellung: Nachdem das Zeitalter des Wassermanns vorbei sein wird, kommt Alschah Geruh, Kommunikationsberater, aus den Tiefen des Universums (Fachhochschule für Sozialarbeit, Bielefeld) und hält ein Seminar über das bevorstehende Ende der Welt (2.300 € zzgl. MwSt.), auf dem auch sein Buch „Töpfern am Ende der Welt“ (24,90 €) und kleine Kristalle (pro Stück 130 €, drei Stück 500 €) verkauft werden, die den Staatsanwalt (89 €) beim Jüngsten Gericht (7800 €, mit 2% Skonto bei Barzahlung) durch Freisetzung lichtsensitiver Energien (666 €) bei seinem Schlussplädoyer (99,99 €, nur noch bis 31.12.!) im Sinne (0,49 €) des Angeklagten beeinflussen sollen. Und auch die Anthroposophie hat ihr eigenes Bild: Jesus kommt wieder. Wann, wird nicht genau gesagt. Er trägt die langen, wohlgepflegten Haare mit einem Ring aus ökologisch abbaubarem Jute-Ersatz zusammengebunden und fragt im Jüngsten Gericht jeden Menschen, welchen Tee er haben will. Es wird fair verhandelt, damit auch lateinamerikanische Bauern ihren Anteil am Himmelreich bekommen. Die Astrophysik ist da etwas nüchterner: In etwa 5 Mrd. Jahren wird unsere Sonne den Geist aufgeben (Hawking) und in 100 Mrd. Jahren wird unser Universum so schwarz, leer und sinnlos sein wie Sachsen-Anhalt. Die Mehrheitsmeinung ist dagegen eine ganz andere: Eigentlich sollte das Ende der Welt längst gewesen sein, aber der FC Bayern hat sich dagegen gewehrt, weil „es noch so viel zu gewinnen gibt“ (U. Hoeneß). Und bei dem Einfluss, den der FC Bayern mittlerweile hat, musste der Weltuntergang tatsächlich verschoben werden, weil „wir sonst aus der Champions-League ausgestiegen wären und mit Real Madrid eine eigene Superliga aufgemacht hätten“ (F. Beckenbauer). Das wäre auf Dauer zwar etwas langweilig gewesen, hätte aber sicherlich trotzdem funktioniert.

Ich denke jedoch, es gibt ein Morgen. Daher soll zum Schluss der Ausblick auf DAS Ereignis des Jahres 2008 nicht ausbleiben: Olympia in China.

Am 08.08.08 um 08:08 (Frage: Welche Zahl gilt in China als „heilig“?) werden sie eröffnet, die 29. Olympischen Spiele der Neuzeit. Zum ersten Mal wird das bevölkerungsreichste Land der Erde das Spektakel ausrichten. Mit Peking wurde 2001 ein Austragungsort gewählt, der vielversprechend schien, denn schon lange geht es den Sportartikelfirmen, den Brauereien und anderen Nahrungsmittelkonzernen darum, die Wachstumsmärkte Asiens zu erobern. Darum gab es die Fußball-WM der Herren in Japan und Südkorea (2002), die der Damen in China (2007), die WIR übrigens gewannen (erinnert sich jemand?), und eben – als non plus ultra des postmodernen Konsumgütermarketings – Olympia 2008 in Peking.

Dem Planziel Wirtschaftswachstum – und Olympia ist eine wichtige Facette des Wachstums – wird alles untergeordnet, Sozial- und Umweltstandards ebenso wie die Menschenrechte. Neu ist das keineswegs, sind doch im modernen China Zwangsumsiedlungen an der Tagesordnung und Meinungsfreiheit etwas, das sich nur im Internet finden würde, wenn, ja wenn es einen uneingeschränkten Zugang zum Internet gäbe. Gibt es aber nicht und wird es auch so schnell nicht geben. Denn die chinesische Regierung fährt mit ihrem Sic-et-non-Schlingerkurs zwischen marktwirtschaftlichen Reformen und diktatorischen Repressionen sehr gut, da jene den Westen mehr reizen als diese ihn abschrecken. Der Zweck heiligt die Mittel.

Womit wir beim nächsten Thema wären. Richtig schade ist nämlich, dass man mittlerweile ein Pharmaziestudium mit mindestens befriedigend abgeschlossen haben muss, um Sendungen wie das „Olympia-Telegramm“ überhaupt noch verfolgen zu können. Das IOC hat unterdessen den Anti-Doping-Kampf verstärkt. Nur: Es liegt die Befugnis für die Durchführung von Doping-Kontrollen während der Olympiade, also in dem Zeitraum zwischen zwei Olympischen Spielen, bei den Sportfachverbänden, die auf die Mithilfe der Nationalverbände angewiesen sind. Es ist aber vermessen zu erwarten, dass der chinesische Gewichtheberverband aggressiv Kontrollen bei seinen Aktiven durchführt. Ausschließlich bei Olympia zu kontrollieren, wäre jedoch gleichbedeutend damit, dass die Polizei ihre traditionelle Silvester-Verkehrskontrolle irgendwann im Mai, möglichst vormittags, durchführt, um dann freudestrahlend zu resümieren: Kaum jemand fährt besoffen! Nicht mal die Chinesen!

Noch etwas anders trübt schon jetzt die erstaunlich gute Perspektive der chinesischen Athleten: Ihr anachronistisches Auftreten. Jedenfalls schaue ich mir Olympia nicht wegen 12jähriger Mädchen an, die nach fünffachem Salto mit dreifacher Schraube als Doppelolympiasiegerinnen die schmalen Lippen nur auseinander bekommen, um zu bekunden, sie seien voll Hoffnung, das chinesische Volk und seine wohlmeinende Regierung glücklich gemacht zu haben. Der chinesische Sportler – halb Maschine, halb Parteimitglied – ist dringend zu vermenschlichen, um auch die Massen jenseits der Staatsgrenze zu begeistern.

Es steht also angesichts dieser Vorzeichen zu befürchten, dass die olympische Idee irgendwo im Ozean versinken und nur in Bruchstücken an die Küste des „Reichs der Mittel“ gespült wird. Angesichts von Menschenrechtsverletzungen, Doping und der Rückkehr des klassenkämpferischen Nationalismus’ ins olympische Wettkampfprogramm möchte ich bereits heute eine erste Goldmedaille verleihen. Sie geht an Pierre de Coubertin, den Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit. Disziplin: Sich-im-Grabe-umdrehen, Männer, Einzelwertung.

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Kommentare zu diesem Text


 DanceWith1Life (31.12.07)
Dem ist kaum was hinzuzufügen, ausser vielleicht, dass der noch nicht von den Medien oder irgendwelchen anderen Unterhaltungsbranchen erfasste Mensch, von all dem gar nichts mitbekommen hat, und sich heute bei all dem sündhafteurem Lärm, a) fragt, was schon wieder ein Jahr vorbei, da haben die doch bestimmt manipuliert, b) sich umdreht und weiterschläft weil er ja morgen früh raus muss.
köstlicher Text..)
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