Und eins und zwei und ...

Kurzgeschichte zum Thema Wut

von  Jean-Claude

Alle hören mir zu. Ich kann es nicht glauben, sie hören mir zu. Wie viele Leute stehen da unten und glotzen zu mir herauf? Sehen mich an. Mich!
Hundert? Zweihundert? Oder mehr? Es sind keine zehn Minuten vergangen, seit mich der Hausmeister entdeckt hat. Ich stehe auf dem Dach des Shelton-Hotels. Ich habe ihm zugerufen, dass ich springe, wenn er näher kommt.
Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Aus allen Richtungen rasen Polizei- Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge mit heulenden Sirenen und Blaulicht. Wegen mir!
Morgen steht es in allen Zeitungen. Mit Bild auf der ersten Seite. Ob man mich erkennt? Nennen sie meinen Namen? Nein, das dürfen sie nicht bei Minderjähriigen. "Die fünfzehnjährige Sara L. (Name von der Redaktion geändert) ..."
Tausend Leute sind jetzt da.
Einer hätte genügt ... damals, als Christoph die Pistole an meine Schläfe gehalten und diese schrecklichen Dinge von mir verlangt hat. Ich tat alles ... ich wollte nicht sterben. Hundert Mal habe ich ihn schon umgebracht ... in meinen Gedanken.
Mein Vater hat sich kurz nach meinem achten Geburtstag eine Überdosis Morphium gespritzt, weil er die Schmerzen seiner Krebserkrankung nicht mehr ertragen konnte. Christoph ist sein Bruder. Er hat ihm versprochen, dass er mir hilft, erwachsen zu werden. Er hat sein Versprechen gehalten ... und wie.
Dann kommt Mona, meine Mutti ... auch sie hört mir zu. Hat sie mir jemals zugehört?
>Bleib wo du bist ... oder ich springe!<
Ihr Gesicht ist tränenüberströmt ... ich habe kein Mitleid mit ihr ... Sie hat mir nicht zugehört, als ich ihr erzählen wollte, was Christoph mit mir gemacht hat. Sie hat mir nicht zugehört.
>Du erfindest das nur, weil du ...<
Mutti ist süchtig nach Männern. Sie nimmt sie wahllos, unbesehen ...
Keine drei Monate, nachdem mein Vater gestorben war, schleppte sie den Ersten an. Er hieß Klaus, dann kam Fred, dann Tobias, Jens, Norbert, Ralf,  Stefan ...
Ich beneide sie um ihre Zuversicht. Jedes Mal, wenn einer sie verlassen hat, bringt sie wenige Tage später den Neuen an. >Ralf ist ganz anders, nicht so ein Arschloch wie ... Er ist etwas Besonderes. Sei nett zu ihm, damit er sich bei uns wohl fühlt.<
Meistens war ich nett. Nur meistens ...
Nicht so nett war das mit Karl-Heinz. Er war ein hohes Tier bei der Regierung und Mutti stolz wie ein Pfau. Er wollte nach kurzer Zeit Vater bei mir spielen und ging mir mächtig auf die Nerven. Ich schnitt aus einer Zeitung Buchstaben heraus:
"Staatsanwaltschaft weiß alles. Haftbefehl wird morgen vollzogen."
Er verschwand für drei Wochen und danach aus unserem Leben.
Oder das mit Tobias. Er war viel jünger als Mutti. Ich erzählte ihm, dass sie krank sei und ihrem letzten Liebhaber regelmäßig Arsen ins Essen getan hätte. Von dem Tag an aß er nichts mehr bei uns und vier Wochen später war auch er über alle Berge. Und doch hätte sie wissen müssen, dass das mit Christoph keine Lügengeschichte ist. Auch mit ihm hat sie rumgemacht. Jedes Mal, wenn kein Anderer greifbar war. Sie wollten es vor mir verheimlichen, doch ich habe sie erwischt. Ich habe kein Mitleid mit ihr ...
Müsste ich ihm nicht dankbar sein? Heute habe ich keine Angst mehr vor dem Sterben, auch nicht vor dem unendlich langen Totsein ... Damals hatte ich noch Angst ... nur darum öffnete ich seine Hose ... nahm sein ekelhaftes Ding in die Hände ... und danach ... Er hatte mich mit seinem Auto in der Schule abgeholt und war auf einen abgelegenen Waldparkplatz gefahren.
>Was machen wir hier, Onkel Christoph?<
>Es hat sich ausgeonkelt. Wie lange, glaubst du, kannst du mich noch vorführen wie einen Tanzbären?<
Ich wusste beim besten Willen nicht, was er meinte.
>Wie du deine kleinen Titten vor mir schwenkst, mir deinen Arsch zeigst, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Ich bin auch nur ein Mann.<
Ich versicherte ihm, dass ich ... doch plötzlich spürte ich die Pistole an meiner Schläfe und wusste, er meint es bitter ernst.
>Du tust genau, was ich dir sage oder ich mache ein kleines Loch in deinen Kopf.<
Nein, er hat mich nicht entjungfert. Das Andere genügte ihm. Als es vorbei war, lachte er dreckig und zeigte mir seine Waffe - eine Spielzeugpistole.
>Hast du wirklich geglaubt?<
Hätte ich keine Angst vor dem Tod gehabt, hätte ich es nicht tun müssen. Man sollte keine Angst vor dem Sterben haben, dann ist man stärker. Heute bin ich stark.

>Christoph soll herkommen.<
>Ich weiß nicht wo er ist<
>Okay, dann springe ich!<
>Bitte Lara, tu es nichtWer bist du?<
>Ich will dir helfen.<
>Bist du von der Polizei?<
>Sozusagen ... aber ich bin kein Polizist.<
>Dann bist du der Psychofuzzi. Bei mir zieht deine Masche nicht. Sag ihr, sie soll Onkel Christoph herbringen.<

Ich weiß nicht, wo sie ihn so schnell gefunden haben. Jedenfalls ist kaum eine Viertelstunde in atemloser Stille vergangen. Nur einmal kam von unten eine Männerstimme: "Spring endlich!"

Christoph ist schneeweiß im Gesicht.
>Lara, bitte. Spring nicht! Es tut mir leid.<
Seine Stimme versagt.
>Dir tut es leid? Ich lach mich tot. Ich will, dass du ihr vor allen Leuten die Wahrheit sagst.<
>Ja, Mona ... es stimmt. Ich habe mir mit ... Gewalt etwas genommen, was mir nicht zusteht.<
In seinen Worten hört es sich an, als hätte er mir meinen Lieblings-Teddy weggenommen.
>Verdammt, sag ihr, was du ...<
Ich sehe in das Gesicht meiner Mutter. Sie hat es gewusst. Verdammte Scheiße, sie hat es gewusst.
Dann höre ich den Aufschrei der Menge und weiß für Augenblicke nicht was los ist. Jedenfalls steht Christoph nicht mehr ... Er ist gesprungen. Er ist wirklich gesprungen!
Ein Polizist überwältigt mich. Er hat dieses gemeine Lächeln im Gesicht, das ein Jäger hat, wenn er einen Rehbock aus zweihundert Metern Entfernung erschossen hat. Ich schlage ihm mit aller Kraft meine rechte Faust auf die Nase und sein Grinsen zerplatzt.
Er ist gesprungen! Und eins und zwei und ...              einerlei.
So ernst hatte ich es doch nicht gemeint, aber okay.

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Kommentare zu diesem Text

Silbervogel (74)
(11.02.08)
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Lidiya.Nonova (37)
(02.03.08)
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 Jean-Claude meinte dazu am 05.03.08:
Danke für dein Lob. Nein, sie ist nicht gesprungen. So ernst ... Sie wollte nur, dass sich einmal alles um sie dreht.
Herzlichst Jean-Claude
(Antwort korrigiert am 05.03.2008)
Nihil (35) antwortete darauf am 08.03.08:
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Bittercreek (23) schrieb daraufhin am 30.04.08:
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Sunset (38)
(01.07.08)
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*Frieda* (48)
(05.08.11)
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 MrDurden (21.01.12)
Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, wie Christoph gesprungen sein soll. Ist er aufs Dach gekommen? War er auf einem anderen Dach? Da steht nur, dass er nach einer viertel Stunde da ist und plötzlich die Menge aufschreit. Die Grundidee von deinem Text finde ich gut. Auch dass sie auf dem Dach beginnt und die Protagonistin sich an das Geschehene zurückerinnert. Zwischendurch gibt es aber ein paar Sachen, die dem Text die Ernsthaftigkeit nehmen. Z.B. das mit der Spielzeugpistole... eine ziemlich heftige Situation, aber da musste ich fast Schmunzeln. Auch die Aufzählung der Namen aller Ex-Freunde finde ich unnötig. Die Idee gefällt mir, an der Umsetzung lässt sich feilen. Allgemein müssten die Beschreibungen düsterer und hoffnungsloser formuliert sein. Gerne gelesen! Grüße, David.
(Kommentar korrigiert am 21.01.2012)
Festil (59)
(28.01.17)
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