Genie und Wahnsinn XXIV: Martin Luther (1483-1546)

Essay zum Thema Wahnsinn

von  JoBo72

Luther ist bekannt als Reformator, der sich gegen die Werkgerechtigkeit und die daraus resultierenden Praktiken der Kirche (Ablasshandel) wandte und die Rechtfertigung des Menschen vor Gott - zentrales Thema der Theologie - allein im Glauben sah, welcher dem Menschen durch die Gnade Gottes ans Herz gelegt wird. Sola gratia, sola fide, allein die Gnade und allein der Glaube können den Menschen heilen und vor Gott gerecht machen. Dabei sei allein die Bibel, die Offenbarung Gottes, als Orientierung für den Christen maßgeblich (sola scriptura).

Dieser Ansatz gefiel den Kirchenherren überhaupt nicht. Auf ihren Druck verhängte Kaiser Karl V. 1521 die Reichsacht, eine Art Haftbefehl, gegen Luther. Ein großer Glücksfall für die deutsche Sprache! Luther wurde nämlich von einem befreundeten Fürsten auf die Wartburg verbracht, wo er in Sicherheit war und in Ruhe die Bibel ins Deutsche übersetzen konnte. Da die Bibel nicht irgendeine Abhandlung war, die vielleicht nur eine Handvoll Gelehrte interessiert hätte, sondern in allen Schichten mit Interesse und Aufmerksamkeit gelesen wurde (über Jahrhunderte war es in vielen Familien sogar das einzige Buch), konnte sich die deutsche Sprache einheitlich etablieren. Man nennt daher das Neuhochdeutsche auch Lutherdeutsch.

Luthers psychische Leiden werden in der Literatur meist – religiös-spirituell verklärt – als „Anfechtungen“ bezeichnet, mit denen er wie viele andere Mystiker und Kirchenlehrer im Glauben geprüft werden sollte. Auch schreiben katholische Autoren häufig vom zügellosen Leben des Reformators, während evangelische die Gängelung und Schikane Luthers im Kloster und die spätere Verfolgung durch Kirche und Kaiser als Grund für seine „Aussetzer“ anführen. Berühmt ist die Geschichte, in der erzählt wird, dass er im Wahn den Teufel sah, ihn mit einem Tintenfass bewarf und auf diese Weise vertrieb.

Etwas weltlicher und konfessionell neutral nähert sich Anton Neumayr in seinem 1999 erschienen Buch Luther, Wagner, Nietzsche – im Spiegel der Medizin der Persönlichkeit des Reformators und Germanisten. Die Tintenfleckepisode ist für ihn Ausdruck einer Haftpsychose mit optischen Halluzinationen. Des weiteren seien Beispiele hysteriformer Anwandlungen von Mitbrüdern im Kloster berichtet worden. So fanden sie ihr Enfant terrible schon mal wie tot auf dem Boden liegend, die Arme kreuzweise von sich gestreckt. Unter dem Einfluss von Musik sei sein Bewusstsein angeblich rasch wieder zurückgekehrt und die offensichtlich emotionale Hochspannung habe sich in heftiges Schluchzen aufgelöst. Eine andere Situation affektepileptischen Geschehens war jene als er bei der Verkündigung des Evangeliums von der „Heilung eines mondsüchtigen Jungen“ (Mt 17, 14-21) tobend umstürzte und laut „Ich bin’s! Ich bin’s!“ schrie.

Grundsätzlich habe Luther jedoch an einer endogenen Psychose mit manisch-depressivem Erscheinungsbild gelitten. Dafür spreche, so Neumayer, sein Melancholieanfall der Jahre 1527/28 und die gelegentlichen Phasen von Hypomanie. Verwischt werde diese Diagnose durch Luthers neurotisches Verhalten in jungen Jahren und das Auftreten paranoider Züge im Alter, die durch einen Hang zur Rechthaberei und zum Fanatismus, zu zunehmendem Argwohn auch Freunden gegenüber sowie durch ein markantes Sendungsbewusstsein geprägt waren.

Wie dem auch sei, Luther selbst formuliert ein hoffnungsvolles Credo für alle unter Krankheit Leidenden: „Nun, lieber Herr Gott, du hast mich gesund gehabt, du mußt mich auch kranck haben.“


Anmerkung von JoBo72:

Der Text erschien 2005 in: „Perspektive Eigensinn. Zeitung der Interessenvertretung Psychiatrie-Erfahrener im Kreis Kleve e.V.“.

Mit diesem Text endet die 24teilige Serie „Genie und Wahnsinn“. Herzlichen Dank an alle, die diese Serie interessiert und kritisch begleitet haben. Die zahlreichen Vorschläge werde ich, wenn ich zeitlich dazu komme, hoffentlich bald verarbeiten können; jedenfalls danke ich den Vorschlagenden, die schon jetzt mein Interesse an den betreffenden Persönlichkeiten hinsichtlich des Themas „Genie und Wahnsinn“ geweckt haben!

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Kommentare zu diesem Text

Elias† (63)
(01.03.08)
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