Gestern

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  autoralexanderschwarz

Gestern

Als ich erwache befinde ich mich an einem seltsamen Ort, den ich noch nie gesehen habe und der gerade durch seine Normalität verstörend auf mich wirkt. Es ist unverkennbar ein Wohnzimmer, gemütlich und mit einigem Geschmack eingerichtet und es ist behaglich warm.

Ich sitze auf einem alten Sofa, dessen Armlehnen aus Holz gefertigt und mit kunstvollen Schnitzereien verziert sind. Jemand hat eine Decke über meine Beine geworfen und als ich mich aufsetzen will, bewegen sie sich nicht, so als wären sie kein Teil von mir. Unbeweglich stehen meine Füße in weiten gefütterten Hausschuhen, auf einem roten Teppich mit verschlungenen Mustern. An den Wänden hängen Bilder, die zunächst meine Aufmerksamkeit fesseln, mich ablenken von dem Wunsch die Beine zu strecken.

Großformatige alte Aufnahmen von Landschaften und Städten verblassen hinter breiten hölzernen Rahmen und erzählen Geschichten über andere Zeiten. Mit gegenüber sitzt eine Frau, ein unbekanntes altes Gesicht, das geradezu strotzt von Falten und kleinen Runzeln, dazwischen glitzern zwei freundliche, irgendwie weise Augen, die mich aufmerksam durch zwei dicke Brillengläser hindurch betrachten.

„Guten Abend, Thomas", sagt das fremde Gesicht als ich sie bemerke und zunächst ein wenig misstrauisch mustere. Ihre Stimme ist klar und fest, aber auch vertraulich, so als wären wir alte Freunde.

„Hast Du gut geschlafen?"

Thomas, ich denke über diesen Namen nach, der mir merkwürdig vertraut erscheint, den ich aber irgendwie nicht so einfach als den meinen akzeptieren kann, Thomas, aber wie heiße ich, ich weiß es nicht.

Ich blicke an mir hinunter und versuche mich selbst zu erkennen, wer bin ich?

Ich trage eine Stoffhose, darüber liegt diese bunte Wolldecke, darunter gleiten zwei exakte Bügelfalten in die Pantoffeln. Dazu trage ich ein kariertes Hemd, meine Hände wirken alt und faltig.

„Ich", setze ich zu Sprechen an, doch dann verstumme ich beim Klang meiner Stimme und weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.

„Natürlich, Thomas", antwortet sie, wobei ihre Stimme einen zärtlichen Klang bekommt, als sie meinen Namen sagt. Immer noch blickt sie zu mir hinüber und reicht mir einen Spiegel.

Ich betrachte mich und erkenne mich nicht, suche kleine Anhaltspunkte oder Vertrautheiten in dem alten Gesicht, das meinen Blick traurig erwidert.

Meine Hände, die den Spiegel halten zittern, ich habe keine Kraft, doch ich versuche mich zu erinnern, wer ich bin, was ich war und wie ich hierhin gekommen bin. Es ist Sommer in meiner Erinnerung, Sommer und ich verfolge im Geist jedes kleine Details, jedes Bild, dass sich einstellt, Sommer, doch es sind nur Fetzen von Erlebten, Rätsel, die ineinander führen.

Ich renne über ein  Feld, einem Mädchen hinterher, das ein buntes Kleid trägt. Ganz genau sehe ich sie vor mir, wie sie rennt und wie das Kleid flattert, spüre den Boden unter meinen Füßen und die hohen Gräser, die an meinen Armen vorbeistreifen. Ich bin Kind und ich renne hinter ihr her, weil ich ihr etwas sagen möchte, etwas wichtiges. Ich gehe in die dritte Klasse, meine Lehrerin heißt Frau Albrecht, sie ist immer sehr streng, meine Mutter weint manchmal abends, weil der Vater nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist.

Die Gedanken fließen, doch es lässt sich kein Bezug herstellen, zu jenem alten Gesicht, das mich inzwischen mutlos aus dem Spiegel heraus betrachtet.

„Weißt Du wer ich bin?", fragt mich auf einmal die alte Frau und man hört ihrer Stimme an, dass sie die Antwort kennt.

„Nein, es tut mir leid. Ich kenne Sie nicht.", sage ich und schäme mich dabei, weil ich ahne, dass ich es wissen müsste.

„Ich bin Klara", sagt sie dann in einem liebevollen Ton, indem Fürsorge, aber auch ein wenig Mitleid mitschwingt.

„Ich bin deine Frau."

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll und schweige. Gleichzeitig will ich ihr so viele Fragen stellen, doch ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.

„Ich bin nicht das Mädchen, dem du auf dem Feld hinterher gerannt bist."

Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll, lege den Spiegel beiseite und betrachte sie, frage mich, wo in diesem Gesicht das sein könnte, was ein Teil von mir geworden wäre, wenn sie die Wahrheit sagt, ich müsste mich an etwas erinnern, an unsere Hochzeit, unseren Alltag doch warum sollte sie lügen?

„Ist das hier unsere gemeinsame Wohnung?", frage ich vorsichtig und ich sehe ihr an, dass sie diese Frage erwartet und vielleicht schon unzählige Male beantwortet hat.

„Wir wohnen inzwischen 32 Jahre hier" sagt sie und sie sagt es wehmütig.

„Oben im ersten Stock ist dein Schlafzimmer, draußen im Garten hast du immer die Stangenbohnen gepflanzt, erinnerst du dich, einmal im Jahr die Löcher gestochen, die Pfähle hineingetrieben, die Bohnen in die weiche Erde gedrückt. Ich weiß, dass du dich erinnerst.",

sagt sie und sie hat recht, ich erinnere mich an die Stangenbohnen, an die schwere Metallstange, die ich in den Boden stieß, um dann mit rhythmisch rudernden Bewegungen das Loch zu vergrößern. Vor und zurück, links und dann rechts, Jahr für Jahr habe ich die Pflanzen wachsen, reifen und sterben gesehen.

„Du erinnerst dich", wiederholt sie, während ich nachdenklich nicke und dann streicht sie mir mit der Hand über die Fingerkuppen, die wie leblos, bleich und adrig auf dem Tisch liegen.

„Was stimmt nicht mit mir?", frage ich, „warum erinnere ich mich nicht?",

und sie antwortet: „Ich weiß es nicht, ich weiß es doch auch nicht."

„Habe ich…", setze ich zu fragen an und sie zieht wissend und nickend das hervor, auf das ich gehofft habe, ein dickes Notizbuch, dass ich voller Aufregung ergreife und aufschlage.

Zeile um Zeile ist eng mit derselben Handschrift beschrieben, eine fremde Schrift, hastig und krakelig, die ich nicht ohne Prüfung als die meine akzeptieren kann. Ich schlage die letzte Seite auf und sehe immer wieder dasselbe Wort über- und untereinander geschrieben, in den verschiedensten Farben. ‚Gestern’ steht dort Zeile um Zeile, jedes Wort aber in der exakt gleichen Weise und mit großer Sorgfalt gezeichnet. Zögernd nehme ich den Stift entgegen, den sie mir wortlos hinhält und setze vorsichtig und mit großer Sorgfalt ein neues ‚Gestern’ auf eine winzige, freie Stelle.

Es ist meine Schrift, mein Text, es ist mein Tagebuch und auf einmal kann ich mich erinnern, wie ich genau hier sitze und Zeile um Zeile hineingeschrieben habe. Voller Aufregung blättere ich zurück und beginne zu lesen, lese über meinen Alltag, Dachreparatur, Stangenbohnen, Keimzeit. Wort um Wort miteinander verbunden zu kleinen Geschichten über mich. Ausflüge, Pilze suchen, Kindergeburtstag.

Ich stocke, blicke auf, hinüber zu der alten Frau, die Klara heißt, die meine Frau ist.

„Ja, wir haben einen Sohn", sagt sie und lächelt, so wie nur Mütter lächeln können, die über ihre Kinder sprechen.

„Michael ist unser Sohn. Er studiert in Freiburg Soziologie. ‚Brotlose Kunst’ hast du immer gesagt. Gestern hat er uns besucht."

„Michael", wiederhole ich langsam und der Name hat einen vertrauten Klang, so als hätte ich ihn bereits öfter ausgesprochen.

„Michael", sage ich mehrmals leise, in verschiedenen Tonarten.

Mit einem Mal bricht Verzweiflung in mir aus, macht meinen Hals ganz eng, dass es mir den Atem raubt, tief in mir reißt etwas auf, es tut weh.

Auf einmal sind da Tränen in meinen Augen und wieder hat sie es gewusst, denn sie reicht mir ein Taschentuch, das bereist auf dem Tisch bereitlag.

„Es tut mir so leid", sage ich und wieder streicht sie mir über die Hand.

„Du kannst nichts dafür", flüstert sie tröstend und es soll aufmunternd klingen.

„Wie lange bin ich so?"

„Ein paar Jahre."

Ich beruhige mich ein wenig und lege das Buch beiseite, denn ich kann es jetzt nicht mehr lesen, habe Angst vor all dem, das noch dort stehen könnte, das dort sicherlich steht.

Der ganze Raum macht mir Angst, die Behaglichkeit verwandelt sich Fremde. Die ganzen Fotografien, die an der Wand auf einer Ablage stehen, das alte Café-Service hinter dem Vitrinenglas, die vielen kleinen Gegenstände, Reiseandenken, die ich wohl von Jugend an gesammelt habe, um im Alter davon zu zehren und die mir jetzt fremd sind.

„Ich habe mein Leben verloren und bin noch nicht gestorben", sage ich leise, erschöpft und sie blickt mich voller Ernst an und antwortet:

„Ja. Ich weiß."

Dann schweigen wir und obwohl ich keine Hoffnung habe, suche ich fieberhaft nach meinen Erinnerungen, die irgendwo in meinem Kopf verborgen sind, doch da ist immer wieder nur diese Wiese, diese Wiese über die renne, das Mädchen mit dem bunten Kleid, dem ich etwas sagen wollte, das ich nun vergessen habe. Ich schließe die Augen und sehe ihr nach, wie sie in der Ferne verschwindet, einen Hang hinauf und irgendwann ist sie einfach weg, nur noch ein vager Gedanke vor dem Horizont, der sich langsam mit Dunkelheit füllt. Ich merke, wie ich müde werde. All das Nachdenken hat Kraft gekostet, all die Gefühle haben mich schwach gemacht. Langsam sinkt der Kopf auf die Brust. Er ist so schwer geworden.

„Ich liebe dich, Klara", sage ich noch und schäme mich, weil es gelogen  ist. Dann schlafe ich ein.

Als ich erwache befinde ich mich an einem seltsamen Ort, einem Ort, den ich noch nie gesehen habe und als ich vorsichtig den Kopf hebe, sitzt mir gegenüber eine alte Frau, die mir fremd ist und mich aufmerksam betrachtet.


Anmerkung von autoralexanderschwarz:

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