Im Bann der Fadensonnen.

Kurzprosa zum Thema Vergangenheit

von  Pameelen

Illustration zum Text
Elpenbachstrasse
(von Pameelen)
Illustration zum Text
Der Neunundsechzigjährige
(von Pameelen)
Eines Vormittags beobachteten sie den unruhigen Rauchschweif eines zu Boden torkelnden Kampfflugzeuges. Neben der knatternden Spitfire glitt lautlos ein weit geöffneter Fallschirm zu Boden und ein Dutzend Kinderbeine lief in die Richtung seines erwarteten Niedergangs. Sie schnappten keuchend nach Luft als sie gleichzeitig mit einem deutschen Armeejeep eintrafen. Im Geäst einer Birke unweit des Elpenbaches hing und strampelte der Pilot wie ein übermäßig betuchter Käfer im Tarnanzug. Ein Landser schickte sich an, ihn aus dem Netz zu schneiden, deutsche Offiziere verständigten sich kurz, und einer von ihnen, der Seichte, wie ihn hier alle nannten, nahm seine Waffe entgegen. Ein kräftiger deutscher Handschlag und Zigaretten wechselten die Besitzer. Der Seichte hatte die Hände auf dem Rücken verschlagen und schritt an der Spitze des Trosses lächelnd an ihnen vorüber.
Er sah aus sicherer Entfernung nur zu.
Er war reich.

Sein Reichtum erstreckte sich auf einen Leinenbeutel bläulich schimmernder Murmeln, ein abgewetztes Messer, eine Zwille aus kräftigem Eibenholz und  unzählige leere Karabinerhülsen, wenn sie aufbrachen zum Spiel in einem ausgebrannten Armeelaster inmitten beseitigter Panzersperren. Die stets wiederkehrende skeptische Befangenheit angesichts der Trümmer wurde nur gemeinsam im Kreis rotzfrecher Kinder überwunden. Es war die Neugier, die ihre überkommende Angst besiegte. Die Vorstellung einer leichten Sterblichkeit war für eine Horde Kinder undenkbar in einer Heimat, die einem Spielplatz glich, so faszinierend wie einer der Blindgänger im Sand.

„Bringt doch die Kinder endlich von hier weg!“ hatten sie geschrieen als sich der Querschläger einer berstenden Fliegerbombe tief in die Wand des Wohnzimmers eingrub. An diesem Abend blieben sie jedoch ungewarnt. Sein Vater war es, der sonst heimlich und mit größter Wachsamkeit die Soldatensender abhörte und als Letzter das Haus verließ. Wenn er den Bunker betrat und die Eisentür hinter sich verrammelte, wussten sie alle, dass es nicht lange dauern würde bis die anfliegenden schwarzen Kreuze ihre Bombenschächte über ihre Häuser öffneten und sich ihrer todbringenden Ladung entledigten. Daran konnten auch die achtlos in den Nachthimmel gejagten Leuchtspuren und Garben der deutschen Abwehr nichts ändern. Doch in dieser Nacht wurden sie überrascht und der Entschluss seiner Eltern war schnell gefasst.

Mit neun Jahren befand sich Manfred R., Sohn eines preußischen Huf- und Kesselschmieds, auf der Flucht vor den Bombardements auf die zahlreichen Kokereien, Stahlschmelzen und Waffenschmieden im Ruhrtal. Es war eine Flucht vor dem Heulen der Fliegerbomben, dem Phosphorgeruch aus der Hölle, eine Flucht vor den langen Abenden, an denen sie alle benommen im Halbkreis vor dem Volksempfänger beieinander saßen und den verkündeten Grimassen des Führers lauschten, der mit einem grässlich atmosphärischen Rauschen und einem unerträglich hohen Pfeifen bis hin zur Unkenntlichkeit ins All verschwamm und noch am anderen Ende des Universums für Schrecken sorgte. Die Hölle hatte eine ihrer Filialen vorübergehend in Deutschland eröffnet, daran gab es keinen Zweifel mehr und ein Ende des irrwitzigen Turmbaus, so war verzerrt zu hören, war noch immer nicht in Sicht.



„Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um.
Und keiner weiß.“*


Er saß plötzlich allein mit seinem Pappkoffer, gedörrtem Obst und einer Kante Weißbrot in dem Zug, der ihn hinausbringen sollte aus Oberhausen. Jetzt rumpelte er gen Osten in die Masuren nach Ortelsburg, südöstlich von Allenstein, zu Tante Minna und Tante Paula, die versprengten Reste der Familie. Im weiten Schatten verfallener Wendentempel sollte er eine vorübergehende Zuflucht finden. Schon flog die Landschaft in einem schmalen Streifen am Fenster vorbei: das schweigende und das verbrannte Land, die ach so geliebte Kindheitserde. Das weite Land. Land schlechthin. Reduziert auf Fingernagelgröße zogen Häuser, Kirchen und ganze Dörfer vorüber, klein und bedeutungslos wurde die Welt entgegen der Fahrtrichtung.

Seine Heimat verkam in diesen Tagen zu einem undurchdringbar bösartigen Gewebe, zu einem befleckten und konturlosen Gebilde; zersetzt schrumpfte es zusammen, nein, es verkrampfte vielmehr schmerzhaft unter den alliierten Vorstößen, die täglich veränderte Grenzverläufe in ihre Karten zeichneten. Der Lebensborn war durchlöchert. Rauchsäulen stiegen auf. Fäulnis breitete sich aus . . .
Lange würde es dauern, bis sich die strapazierte Erde von ihren darauf achtlos wütenden Menschen erholte. Die Erde suchte sich neue Grenzverläufe und bedachte seine Menschen, die in einem zähen, aber aussichtslosen Ringen die Grenzsteine zu bewahren versuchten nicht mit Milde und Güte. Jede Grenzziehung und sei es nur eine begriffliche Markierung, enthielt eine Gewalt, ohne die sie nicht zu denken war. Obwohl jeder ein klares und wahres Wort darüber erheben konnte, von welcher Beschaffenheit das Gebilde Heimat ist, fiel seine Antwort stammelnd zu Boden in den Staub der Straße. Er glaubte insgeheim daran, dass die Heimat ihre Menschen in seine natürlichen Grenzen setzt und nicht umgekehrt. Das Ende der vertrauten Welt und der Beginn einer neuen Heimat, beides so schwer greifbar wie der Aufgang und Abstieg eines Regenbogens, vermischte sich so stark in seinen Sinnen, dass ihm die Grenzen, die klaren Übergänge vom Anbeginn und Endenwollen unentschieden blieben. So schwer wiegt nur das Herz.

In seinen Nächten, wenn sie nicht wieder einmal traumlos eingebleicht und leer blieben, erschienen ihm die Fratzen der Offiziere. Die Turmwächter auf den Zinnen koordinierten damals im Kellerraum der Mädchenschule den örtlichen Widerstand der Heimatwehr. Allen voran der Seichte, ein im Alltag verschlossener Mann von vornehmer Zurückhaltung, der niemals ein persönliches Wort oder ein Wort der Befindlichkeit über den Rand seiner Lippen nach außen trieb. Der Seichte, ein kleiner gebeugter Mann in einer Offiziersuniform trat hier zur Überraschung aller Anwesenden mit hochrotem Kopf lautstark und kampfbereit für Blut und Boden ein, als längst niemand mehr einen Befehl erwartete. Was als kindliche Mutprobe in dieser Nacht begann, endete in ein Erschrecken. Habt ihr seine Augen gesehen? Habt ihr gesehen wie sie hervortraten, wie sie starr wurden und sich auf das verdammte Stück Karte hefteten? Es wurde still. Dann wurde es unheimlich.


„Um Mitternacht der Aufruhr weheklagt’
und durchs Gefilde stürzt’, und lebensmüd
mit eigner Hand sein eignes Haus zerbrach,
wenn sich die Brüder flohn, und sich die Liebsten
vorübereilten, und der Vater nicht
den Sohn erkannt und Menschenwort nicht mehr
verständlich war und menschliches Gesetz
zerrann an der Flamme,
da fasste mich die Deutung schaudernd an,
es war der scheidende Gott meines Volks!
Den hört ich.“**


Nach dem Krieg der Wiederaufbau.
Manfred arbeitete als Realschüler zwischen den Staublungen vor Ort auf Schacht Vier, täglich vier doppelt belegte Brote und ein Kanister Wasser, gepisst wurde im Alten Mann. Nach der Schicht die Gespräche in der Kaue, kohlrabenschwarze Gesichter aus denen weiße Zähne bleckten, schäumendes Bier in knöcherne Hände, ein Abgesang auf den vergangenen Tag, die vergangene Schicht, auf die bevorstehende Schicht, auf die Maloche dort unten, tief unten, siebte Sohle, Flöz Herrenbank. Der Querschlag ein schmieriges Drecksloch in dem das Wasser teilweise bis zum Knöchel stand, schlecht belüftet, ein Bad in Kohlenstaub, der durch den Querschlag flitterte, vielleicht soff er bald ganz ab.

Er bewarb sich mit Erfolg bei der Bundesbahn. Er begann in der Rotte, Gleisarbeiten für das Wirtschaftswunder, der Wechsel zum nichttechnischen Dienst, einsame Jahre als Schrankenwärter den Zügen nach Milano, Wien und Berlin eine freie Fahrt gewährt, dann der Wechsel zum Stellwerk auf freier Strecke, später die Versetzung zu Deutschlands zweitgrößten Verschiebebahnhof nach Oberhausen-Osterfeld. Eine kalte Welt aus Stahl und Lärm, aus zusammenzustellenden Waggons, ein undurchdringbares Netz aus surrenden Fahrleitungen, geschmierten Weichen, mannshohen Signalhebeln und ein allzeit gereizter Blick zurück.

Jahrzehnte später, die kindliche Unbefangenheit längst abgelegt, zeigt er seinen Enkeln die Orte und Plätze seiner Kindheit, den Funkenschlag ruhmreich wirbelnder Räder, die Male und die Sumpfsymbole aus dem Schattenreich schwarzer Sonnen und gelber Sterne. Es sind die Zeichen der Vergangenheit, die man heute nur aus Büchern lehrt. Geschichte findet in Büchern statt, so hat es den Anschein, irgendwo dort draußen, weit weg, nicht aber in unserer Stadt, nicht in unserer Straße. Nein, nicht hier bei uns.
Der Buchstabengläubigkeit gelehriger Werke und den Karten übermächtiger Folianten setzt er sein ungetrübtes Gedächtnis und einen starren Fingerzeig entgegen, obwohl er doch längst nicht mehr gerade hierdurch an Beweiskraft gewinnen musste: hier die Flakstellung der Heimatwehr, hier der Golfplatz auf dem Boden der Kokerei und dort kleine, im dichten Gestrüpp versunkene Einmannbunker, die das Arbeitslager unweit des Heidenfriedhofs begrenzten. Die eine oder andere Fliegerbombe, die der ächzenden Kokerei galt, schlug hier auf und zerpflügte den Boden, sodass bleiche Gebeine aus tiefer Erde an das Tageslicht gezerrt wurden. Er zeigt ihnen die klaffende Lücke einer Häuserzeile wenige Straßen weiter, drei Einfamilienhäuser hochdekorierter Nationalsozialisten, von amerikanischen Panzern neunzehnhundertfünfundvierzig kurzerhand den Erdboden gleichgemacht. Auf dem Rückweg zeigt er ihnen den Erdbunker auf ihrer Straße, in denen sie sich wie hässliches Getier unter die Erde verkrochen, wenn nachts der Himmel aufbrauste und zu einem mächtigen Brummen anschwoll. Er zeigt ihnen die mächtige Birke am Bachlauf, in der ein Pilot in den Ästen hilflos taumelte und im eigenen Garten die Birke, die er bei seiner Hochzeit um des ersehnten Glücks willen pflanzte und später den Fleck im eigenen Haus, an dem ein Granatsplitter hinter Farben, unzähligen Tapetenlagen, eingekeilt zwischen Ziegeln eine letzte Ruhe fand. Hierin war er peinlich genau, Ordnung musste sein, ein Erbe seiner preußischen Lehrjahre.

So stehen sie einfach da am Ende des Gartens, der Großvater mit seinen beiden Enkeln. Hier auf dieser Wiese hatte er barfüßig die ersten Schritte in die Welt erlernt, die niemals seine werden sollte.
Einige Gärten weiter zieht ein Nachbar schleppend seine gewohnten Rundgänge. Selbst im kalten Novemberwind geht er hier täglich schmauchend auf und ab, die Krempe seines Mantels in den Nacken hochgereckt. Es ist einer von den alten Siedlern aus dem Gründungsverein. Langsam, mit Bedacht wendet er sich ihnen zu. Gebückt auf einem Stock grüßt der Seichte, der längst nicht mehr mit dem Zeigestock gebieterisch über einen Kartentisch kreist. Das ins Hirn hochschnellende Blut baute in den letzten Jahren immer größere Drücke auf, verklumpte dort und die rechte Hand, die sich einst so stolz und mächtig gen Himmel zum Gruß erhob, baumelt seitdem zufrieden am Körper hinab.


* Georg Heym, „Der Krieg I“.

** Friedrich Hölderlin, „Empedokles“.


Anmerkung von Pameelen:

Der Neunundsechzigjährige.

Ein Portrait.

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