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Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

Die gebeizten, abgetretenen Dielen ächzten unter seinem Gewicht, als hinter Paul die Tür zuschlug, er den Windfang aus dickem Stoff teilte und quer durch die geräumige, überheizte Dorfschenke schritt, um sich zu Sandra an den Tisch in der Ecke zu setzen, wo sie vor neugierigen Blicken durch eine riesige Yuccapalme geschützt waren. In dem Alkoven neben der breiten Eichenholztheke summte ein moosgrüner Kachelofen, verschiedenartige unerklärliche nautische Gerätschaften waren an den holzverschalten Wänden angebracht oder hingen von der Decke, Anker, Ketten, ein riesiger Kompass wies Norden in der Mitte der Wirtschaft auf einer Vorrichtung aus Teakholz.
Er küsste sie zur Begrüßung. Die matronenhafte Wirtin brachte ein Bier und setzte es mit grobrissigen Händen vor Paul ab. Außer ihnen waren nur ein paar Bauern aus der Umgebung zu Gast, und die schwiegen in ihr Glas oder starrten aus dem Fenster. Es war sehr still. Lakonisch tickte eine Standuhr. Möwen kreischten über den Dünen.

"Ich habe dich schrecklich vermisst. Ich träume von dir."
"Meine Träume gelten ebenfalls dir, Sandra."
Sie brachen auf.
Die Wirtin spülte Gläser, trocknete ab und stellte
sie zurück auf die Anrichte. Sie schüttelte den Kopf, wusste selbst nicht weshalb. Sie schenkte einen Klaren in ein Schnapsgläschen ein.

Peter und Angelika Winter empfingen sie im Wohnzimmer. Sandras Vater war ein freundlicher älterer Herr, dem robuste Gesundheit aus dem Gesicht  strahlte. Sein kahles Haupt war von einem grauen Haarkranz gesäumt, geplatzte rote Äderchen bedeckten seine Nase und die glattrasierten blauglänzenden Wangenpartien. Sandras Mutter war eine stille, zierliche Frau, die in das dunkle verwachsene Haus am Ende der Senke hinter den Dünen nicht recht zu passen schien.
Sie saßen im Wohnzimmer, das nur aus Anlass eines fremden Besuches wirklich bewohnt wurde, und führten eine beklommene, unbeholfene Konversation, aßen Apfelkuchen mit Streuseln, tranken Kaffee mit Milch und Zucker. Sie versuchten sich über das Wetter, die Arbeit, Fußball und Fernsehen auszutauschen. Es waren offene, gastfreundliche Menschen. Peter Winter erwähnte nicht das Kondom, das er beim Laubrechen im Garten gefunden hatte. Angelika Winter ging in die Küche, um neuen Kaffee aufzubrühen. Sandra suchte vergeblich Pauls Hand neben sich auf dem lodengrünen Kordsofa. Paul hielt die Hände im Schoß verschränkt und starrte auf eine Ecke des Wohnzimmertisches, an der ein Stück des Furniers herunterhing. Er hatte sein bordeauxrotes Jackett über eine Stuhllehne geworfen. In der Innentasche waren die Zigaretten. Die Winters mochten es nicht, wenn bei ihnen geraucht wurde.
Nach zwei Stunden verabschiedeten sie sich von Sandras Eltern. Es sei ein netter Nachmittag gewesen; man sollte das bei Gelegenheit wiederholen; der Kuchen war -; und der Kaffe erst -; doch nun wolle man noch etwas anderes unternehmen und so...; man verstehe schon....; natürlich... selbstverständlich.

Als sie gegangen waren, konnten sich Peter und Angelika Winter kaum an Pauls Gesicht erinnern. Es schien ihnen schlechthin entglitten zu sein. Irgendwie sympathisch, aber - seltsam. Sein Blick – linkisch auf eine Art, durchdringend, aber indirekt auch irgendwie. Bemerkenswerte Augen. Welche Farbe hatten sie gehabt? Was hat er gesagt, das er macht? Sie konnten sich nur bruchstückhaft erinnern, obschon er doch genau vor ihnen gesessen, mit ihnen gesprochen hatte. Was hatte er eigentlich groß gesagt? Er hatte doch etwas gesagt?
Und Angelika Winter machte sich Sorgen, und Peter Winter schaltete den Fernseher ein.

An diesem Abend hat Paul Sandra hinter der Klubdisco gefickt. Es hat ihr unheimlichen Spaß gemacht.

Sandras Kollegin hat in der darauffolgenden Woche gekündigt.

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