Melodie von draußen

Kurzgeschichte zum Thema Inspiration

von  Waschenin

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die folgende Schilderung einfach auf meine kranken Nerven zurückgeführt werden könnte. Wenn man bedenkt unter welchen sozialen Umständen und in welcher körperlicher und seelischer Verfassung ich mich befand, dann könnte man das Ganze als eine psychische Störung abtun. Doch dieses Geräusch war etwas, das ich mit meinen Ohren und nichts anderem wahrnahm und ich würde mich weigern, wenn man mich als Verrückten abstempeln wollte. Außerdem hat es mich bis zu einem gewissen Zeitpunkt in meinem alltäglichen Leben nicht behindert, so dass ich mich nicht gezwungen sah einen Arzt oder einen Psychotherapeuten aufzusuchen.
Es geht darum, dass ich, solange ich denken kann und mich zurück erinnere, eine Melodie höre. Es ist eine recht hübsche Melodie, die sehr einfach gestrickt ist. Sie hört sich wie Marschmusik oder etwas ähnlich rhythmisches an. Und obwohl ich selber Musikliebhaber bin, geht mein Geschmack mehr in Richtung populärer Klänge, wie zum Beispiel David Bowie.
Schon als kleines Kind habe ich diese Melodie bemerkt und wunderte mich, dass kein anderer fähig war sie zu vernehmen. Irgendwann habe ich dann aufgehört meine Mitmenschen darauf aufmerksam zu machen, denn ihre Reaktionen und ihre Blicke sagten mir, dass sie das ganze für einen merkwürdigen Scherz hielten.
Manchmal lief sie sehr laut, meistens, wenn ich mich unter freiem Himmel befand und sie wurde um so lauter, wenn ich mich von der Innenstadt Bielefelds weg bewegte. Zum Beispiel, wenn ich außerorts spazieren ging, an einem See oder in einem Wald. Zu Hause, in der Schule und vor allem unter Menschen war sie beinahe nicht zu hören und verstummte fast, wenn viele Leute durcheinander redeten und schrien.
Jahrelang lauschte ich der Melodie und sie störte mich nicht im geringsten, mehr noch, sie bot mir sogar eine Art Unterhaltung, wenn ich allein war, so dass ich mich nie einsam fühlte.
Doch ob Zufall oder Pech befand ich mich mit 25 Jahren in einer isolierten Situation. Obwohl ich ein gutes Abitur gemacht hatte, brach ich gleich zwei Studien ab. Viele meiner ehemaligen Kommilitonen verabschiedeten sich zu dieser Zeit und mit meiner Familie habe ich mich noch nie auf einem guten Fuß befunden. So bezog ich eine kleine Wohnung in dem unangenehmeren Teil der Stadt und suchte, etwas verzweifelt - wie ich zugeben muss, eine Ausbildung, um zumindest diesen Zugang zu einer anständigen Gesellschaft zu haben.
In dieser Zeit begann mich die flüchtige Melodie nervlich zu strapazieren und vor allem, wenn ich betrunken war und von Selbstmitleid erfüllt auf meinem schmutzigen Bett lag und vor mich hindöste, quälte sie meine Ohren. Mir schien, als wachse sie zu einem einzigen riesigen Ton an. Ich trank fast jeden Tag und wenn ich nicht trank, dann schlief ich, um meinem  Verstand, der mich durch diese Melodie in Kombination mit meiner kranken Vorstellungskraft zu abnormalen, düsteren Träumen zwang, zu entkommen.
Es wurde immer schlimmer und weder Alkohol, noch Schlaf- und Beruhigungsmittel halfen mir dabei ruhig zu bleiben.
An genau so einem Abend beschloss ich einen Spaziergang durch die Bielefelder Gassen zu machen und, wenn es mir gelänge, auf den Rausch zu verzichten. Es war ein sehr schwüler und düsterer Julitag. Ich verließ meine Wohnung im achten Stock eines Plattenbaus aus den Sechzigern und schloss die Tür meiner Gewohnheit nach nicht ab. Aus der Haustür raus, ging ich die „Rabenhof“ in Richtung der Sparkasse runter und trat im Takt der mir bekannten und Millionen-fach vernommenen Tonfolge. Pam-taram-tam-tam.
Links lag der „Marktkauf“-Supermarkt, dahinter eine Sozialbausiedlung. Ihre Bewohner lebten von staatlicher Unterstützung, sehr viele von ihnen, und Polizeiwagen fuhren dort sehr oft Streife, weil es immer wieder zu Gewalttätigkeiten und Unruhen unter den Jugendlichen kam. Rechst der Straße befand sich eine Gegend, die von Ein- und Mehrfamilienhäusern bebaut war. Oft ging ich hier entlang, weil es ruhiger war und man nichts zu befürchten hatte. Rechts des Bürgersteigs stand eine Frau, die ein Kopftuch trug und Sonnenblumenkerne aß, deren Schalen sie vor sich hin spuckte. Sie blickte mich an, beim Vorbeigehen, und die lärmende Melodie wurde so laut, dass ich dachte ich säße in einem Flugzeug, das gerade abhebt. So ähnlich fühlte sich der Druck an, der sich in meinen Ohren aufbaute.
Durch die Gewöhnung an dieses Geräusch und um nicht aufzufallen, riss ich mich zusammen und ging ohne sie weiter zu betrachten an ihr vorbei. Es war schon ziemlich dunkel geworden. Das ließ mich etwas ruhiger werden, denn das hieß, dass weniger Leute unterwegs sein würden und einen Menschen sehen würden, der die Ohren mit seinen Händen zuhaltend die Straße lang lief - nämlich mich.
Ich marschierte weiter die „Rabenhof“ entlang, blickte mich um, holte zwei Kapseln aus der Tasche, schluckte eine davon und bog nach rechts in die Ziegelstraße ein, da ich jetzt Durst bekam und vorhatte mir an der Tankstelle etwas zu trinken zu besorgen. Sie lag etwa einen Marsch von 20 Minuten von mir entfernt.
Ich behielt den Takt der Melodie mit meinem Schritt bei.
An dieser Stelle sei gesagt, dass mir nie der Gedanke kam zu fragen, woher sie eigentlich kam. Waren es Instrumente, vielleicht ein Orchester? Oder war es eine Aufnahme? Und wenn ja, wer spielte dann diese Aufnahme ab? Solche Fragen wären vielleicht angebracht gewesen, aber nach Jahren der Gewöhnung und als einem Großstadtmenschen erschien es mir selbstverständlich, dass es immer im Hintergrund laut war, sei es der Fernseher, das Radio, der Straßenverkehr oder halt eine Musik.
Doch noch nie hatte sich die Lautstärke so plötzlich verändert, wie etwa jetzt mit dem Weg zur Tankstelle, der immer kürzer wurde und den ich weiterging. Ich befand mich jetzt auf der „Jungbrunnenweg“ und ein paar Schritte vor mir war das Kirchenhaus der Mennoniten-Gemeinde, das jetzt wie ein riesiger Stein im Dunkeln lag. Als ich daran vorüberging, begannen mir die Ohren so von diesem höllischen Lärm wehzutun, dass ich anfing zu rennen. Eine Person kam mir entgegen. Etwa 50 Meter nach dem Kirchenhaus. Sie drückte ihre Handflächen an die Ohrmuscheln. Ich konnte nicht erkennen wie sie aussah, da es vollständig dunkel geworden war. Ich rannte einige Meter weiter. Der Lärm wurde weniger. Ich drehte mich um, im Gehen, und sah, dass sich die Person mit dem Oberkörper nach vorne krümmte, wie jemand, der Magenschmerzen erleidet, aber immer noch die Hände an die Ohren gepresst.
Das kam mir erst in jenem Augenblick zu Bewusstsein. Ich blieb stehen, überlegte ob ich nach ihr rufen sollte und entschied mich sie aus der Nähe anzusprechen. Ich ging zurück und war wieder dem tonnenschweren Lärm ausgesetzt, der mich zu zertrümmern schien.
Beim Näherkommen sah ich, dass sich die Person auf alle Viere herabließ und die fünf oder sechs Treppenstufen zur Eingangstür der Kirche mit zitternden Gliedern heraufkroch. Auch ich hatte jetzt Schwierigkeiten mich zu halten. Jede Möglichkeit mich aufzustützen nutzte ich aus, sogar die Hecke. Dann einen großen Stein. Und schließlich eine Säule direkt vor der Treppe. Das Lied pochte jetzt so laut, dass meine Zunge im Takt der gigantischen Melodie auf und ab zu springen schien. Jede Bewegung, jedes Gelenk und jeder Muskel vibrierte und entzog sich fast gänzlich meinem Willen. Die Person schaffte es anscheinend unter größten Schwierigkeiten die Treppe empor zu klettern und die Eingangstür zu öffnen. Dann kroch sie hinein.
Mit meiner Willenskraft beschloss ich es ihr gleichzutun und überwand mich mit letzter Körperkraft über die Türschwelle zu kriechen, die Tür stand immer noch offen. Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde bis meine Trommelfelle platzten. 
Im Gebäude drin war es sehr dunkel, doch war man sich bewusst, dass man sich in einem riesigen Kirchensaal befand, denn rechts und links reflektierten mächtige Fenster das schwache Licht der Straßenbeleuchtung. Ich ging weiter geradeaus und befand mich auf einem Mittelweg, der den Raum in zwei Teile schnitt. Auf beiden Seiten des Weges waren lange Kirchenbänke angebracht, wie das in einer evangelischen Kirche wohl üblich ist.
Erst jetzt bemerkte ich, dass es hier drin fast ganz still war. Die Melodie, der Rhythmus und die Musik waren nicht mehr zu hören. Das verstand ich nicht sofort. Ich ging einfach weiter, ohne zu wissen wohin und warum. Am unteren Ende des Raums gab es eine Kanzel. Links davon stand eine Gruppe von zehn Leuten. Ich konnte sehen, dass sie um einen Mann versammelt waren, der einen Kasten um seinen Körper hängen hatte, an einem Gurt befestigt. Offensichtlich war das ein Leierkasten, denn mit der Rechten drehte er die Kurbel. Es muss ein kaputter Leierkasten gewesen sein, dachte ich, denn außer einem leisen quietschenden Geräusch, verursacht durch die Bewegung der Kurbel, war nichts von Leierkastenmusik zu hören.
Ich schaute mir die Szene einige Minuten an und blickte in die Runde. Die Gesichter konnte ich nicht erkennen. Scheinbar waren alle so erstaunt wie ich, weil keiner ein Wort über die Lippen brachte. Dann brach ich das Schweigen und sagte laut und deutlich, indem ich den Leierkastenmann ansprach: „Warum drehen Sie denn die Kurbel? Da kommt doch keine Musik raus!“ Er schien nichts davon wahrzunehmen. „He, hören sich mich?“ rief ich sehr laut und mit einem wütenden Unterton. Jetzt fingen die Leute untereinander zu reden an. Ich konnte nicht alles verstehen, aber es wurde mir klar, dass ich nicht der einzige war, der herausfinden wollte, was die Herkunft dieser sinnlosen Melodie war. Das dauerte nicht lange, weil sich die Unterhaltung in eine aggressive Stimmung umschlug. Der Leierkastenmann bewegte sich kein Stück. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, nur der kurbelnde Arm rotierte immer wieder.
„Bist du für diesen Scheiß` zuständig? Was den ganzen Tag läuft? Sag` mal was, du Spinner! Willst du mich für dumm verkaufen?“, brüllte eine Männerstimme, die aus der Nähe des Leierkastenmannes kam. Danach tippte ihm eine Person auf die Schulter. Er blieb weiter kurbelnd stehen.
Ich war einige Schritte zurückgegangen um zu vermeiden, dass ich in etwas hineingezogen werde, was nichts mit mir zu tun hatte. Der Leierkastenmann verrichtete weiter seine Arbeit. Der aggressive Mann schlug jetzt wohl mit der Faust von oben auf den Leierkasten ein. Das Band riss, der Kasten fiel auf den Boden. Ein anderer Schlag traf den Leierkastenmann in den Bauch, danach knickte er ein und sackte nach vorne zusammen. Eine Frauenstimme kreischte und keifte. Sie wolle die Polizei rufen. Aber die Gruppe löste sich nicht auf, sie war immer noch um den am Boden liegenden Leierkastenmann versammelt. Ich hörte Schreie und Flüche und dumpfe, schwache Geräusche eines Klatschens, als werfe man ein Stück Fleisch gegen eine Betonmauer.
Ich drehte mich langsam um und ging in Richtung der Eingangstür, denn ich hatte vor das Haus zu verlassen. Die Ohren taten mir nicht mehr weh, das merkte ich, während ich aus der Tür schritt. Das hässliche Gekeile dauerte immer noch an.
Als ich in die „Rabenhof“ einbog, war mein Gemüt so weit wieder beruhigt, dass ich, ohne es sofort zu bemerken, meinen Schritt einem Takt anpasste, der aus dem Innern kam, und eine Melodie anfing zu pfeifen, die mich an irgendwas erinnerte.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (15.04.19)
Ein wenig verplappert, müsste etwas dichter erzählt werden. Außerdem einige Schlampigkeitsfehler, z.B. "Millionen-fach" und "Rechst der Straße". Ansonsten leidlich gerne gelesen.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram