Passepartout

Erzählung zum Thema Freundschaft

von  Mutter

Ich schließe mein Rad unten im Hof an und betrete den dämmerigen Hausflur. Die gelbliche Farbe an den Wänden passt sich dem maroden Zustand der abgewetzten Stufen an und blättert in großen Placken ab. Manchmal kommt es mir vor, als könne man, wenn man ein paar Minuten ruhig stehenbleibt, dem Verfall mit bloßem Auge zusehen.
Auf dem Treppenabsatz im vierten Stock angekommen, brauche ich nur einen kurzen Moment, um das alte Schloss mit meinen Dietrichen zu öffnen.
Im Flur gibt es nur unwesentlich mehr Licht als im Treppenhaus, und ich bahne mir vorsichtig einen Weg durch die ungleichen Haufen verschiedensten Gerümpels. Die beiden Bewohner der Vier-Zimmer-Wohnung gehören zur Spezies der Sammler – noch nicht so schlimm wie die Messies, in deren Wohnungen man sich nur unter der Decke hangelnd fortbewegen kann, aber nah dran.
Die Tür zur Küche steht offen, und ich lege die große Tüte mit Brötchen auf dem Tisch ab. Julia hat sich immer eine wirklich geräumige Wohnküche gewünscht, und ist nie ganz zufrieden gewesen mit unserer. So hatte es sich eingebürgert, dass wir uns zum Frühstück meist hier trafen.
Der Kaffee findet sich im Kühlschrank, und nachdem ich die Maschine damit gefüttert habe, gehe ich zurück durch den Flur und stoße die angelehnte Tür zum Schlafzimmer auf. Einen Moment lang beobachte ich, wie Kristina sehr engagiert auf Oliver herumklettert, bevor er mich bemerkt und ärgerlich das Gesicht verzieht. Kristina dreht sich ebenfalls um, und flucht. Mit einem schnellen Griff nach hinten zieht sie das Laken hoch und bedeckt ihre großen Brüste.
‚Herrgott Jakob, kannst du nicht wie andere Menschen auch einfach klingeln? Einmal, nur so zur Abwechslung?‘
Mit einem Grinsen gehe ich, um die schweren Vorhänge aufzuziehen, und die Mittagssonne in das Zimmer zu lassen. ‚Hättet ihr mir aufgemacht?‘
‚Natürlich nicht. Dummer Hund‘, sagt Oliver, und schiebt Kristina, die inzwischen von ihm abgestiegen ist, sanft zur Seite.
Geschickt angelte er sich seine Boxershorts vom Boden und streckt die Beine in die Luft, um sie anzuziehen.
‚Der Kaffee ist fast durch, und es gibt frische Brötchen‘, sage ich im Rausgehen, gerade als Kristina ebenfalls aufsteht, um nach ihren Sachen zu suchen.

Wenig später sitzen wir auf dem Balkon, der draußen am Wohnzimmer hängt, und frühstücken. Der Platz reicht eigentlich kaum für zwei Leute aus, und so habe ich meinen Stuhl in die offene Tür halb ins Wohnzimmer gestellt.
‚Julia ärgert sich jedes Mal die Krätze, wenn sie weiß, dass ihr nicht in eurer Küche frühstückt, sondern hier draußen.‘
‚Wo ist sie überhaupt?‘ fragt Kristina, und schiebt sich den Rest ihres Brötchens in den Mund.
‚Keine Ahnung, irgendwas an der Uni.‘
Ich hatte die beiden damals über Julia kennengelernt. Oliver und sie hatten zusammen Lateinamerikanistik studiert, bevor er anfing, als Flash-Designer zu arbeiten. Aus „ihren“ Freunden waren im Laufe der Zeit „unsere“ Freunde geworden, und inzwischen kam es mir manchmal vor, als bedeuteten sie mir mehr als ihr. Vielleicht sah ich sie aber auch nur einfach öfter.
Kristina hört für einen Moment auf, fingerdick Butter auf die zweite Hälfte ihres Brötchens zu schmieren, und sieht mich an. ‚Du warst wieder mit Gabriel unterwegs, oder?‘
Ich hasste es, wenn man mir diese Frage stellte. Ich wusste nicht genau, wie die beiden zu Gabi standen, aber es reichte aus, dass sie Julias Freunde waren. Sie konnten Gabi nicht gutheißen. Für einen kurzen Augenblick wollte ich es abstreiten, wollte leugnen, dass Gabi existierte, dass dieser Teil meines Lebens existierte. Und diesen Reflex hasste ich noch mehr. Er erinnerte mich daran, dass auch ich Gabi nicht unvoreingenommen gegenüber stand. Dass ich nicht genau wusste, ob es wirklich gesund war, Zeit mit ihm zu verbringen. Er ließ mich spüren, wie sehr meine Loyalität schwankte. Und mich fühlen, als sei ich ein Junkie.
Mit den Achseln zuckend, nehme ich mir ebenfalls ein Brötchen. ‚Wir waren ein bisschen unterwegs. Warum?‘
‚Keine Ahnung. Du bist irgendwie anders, wenn du mit ihm zusammen warst – unruhiger.‘
Innerlich muss ich grinsen. „Unruhig“ ist nicht gerade das Wort, was ich in diesem Zusammenhang benutzen würde, aber ich weiß, was sie meint.


Anmerkung von Mutter:

Ursprünglich gab es noch einen Teil vor diesem hier, der ist aber so urst-alt, dass er überhaupt nicht mehr zum Rest passt, zu langsam, zu behäbig ist - deswegen ist er erstmal auf der Ersatzbank gelandet, und wir schauen, ob wir nicht auch ohne ihn ganz gut klarkommen ... :)

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(27.11.08)
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 Mutter meinte dazu am 27.11.08:
Und weil ich weiß, dass das Kitten sowas nicht bedenkenlos macht, nur um irgendwie ... 'nett' zu sein - bedeutet es mir umso mehr. Glücklich machend. Danke schön Dir ...
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