Blindside

Erzählung zum Thema Illusion

von  Mutter

Den Ausdruck habe ich von Eric. Blindside, meint er, ist das, was man nicht kommen sieht, das, was einen kalt erwischt. Ich habe ihm das mit Irina erzählt, und das war seine erste Reaktion: ‚Man, bleedin’ blindside. Sie hat dich von der blindside erwischt.’
Kann man so sagen.
Ich war schon eine ganze Weile nicht mehr in der Weißen Taube gewesen, und an diesem Abend trieb mich eine leicht schmerzende Melancholie von der Straße herein. Julia hatte gewollt, dass wir uns sehen, aber ich wusste, dass das keine gute Idee gewesen wäre. Wir hätten uns nur wieder gestritten, so unausstehlich bin ich an dem Abend.

Ich sitze an einem der Tische, weiter hinten im Raum. Eigentlich würde ich gerne an der Theke sitzen, da ist man alleine weniger allein. So, als würde die Theke quasi legitimieren, dass man alleine säße. Oder aber, als würde man mit allen anderen, die auch alleine sind, dort zusammen sitzen.
Das hatte ich das letzte Mal gemacht. Und hatte mich endlos lange bei Irina ausgeheult. Hatte ihr Dinge erzählt, die sie bestimmt nicht hatte hören wollen, aber die sie sich anhören musste.
Barkeeper bekommen die Hälfte ihres Gehaltes dafür, anderen Leuten Drinks zu servieren, und die andere Hälfte ist Schmerzensgeld. Schmerzensgeld für all den emotionalen Dreck, den sie sich den ganzen Abend von irgendwelchen Pennern anhören müssen, die dort alleine an der Theke rumhängen. Und glauben, der Barkeeper hätte auch nur einen Funken Interesse daran, was sie zu erzählen haben. Niemanden auf der Welt interessiert, was du zu sagen hast – aber ausgerechnet der Barkeeper in der Weißen Taube – der hat den ganzen Abend nur darauf gewartet, dass du endlich mit deinem Geschwalle anfängst. Ist klar.

Normalerweise gehöre ich nicht zu diesen Pennern – normalerweise sitze ich an einem Tische, so wie heute Abend, und verachte die armen Säue an der Theke. Aber nicht an dem Abend. Ich hatte Ärger mit Julia, und irgendwie hat’s mich einfach überwältigt. Da habe ich mich dann halt bei Irina ausgekotzt.
Sie ist professionell geblieben, hat manchmal hochgesehen, an den richtigen Stelle genickt, manchmal scheu gelächelt als würde sie verstehen und zwischendurch ein Weizen gezapft. Die Weiße Taube ist einer der wenigen Läden, in denen man Weizen vom Fass bekommt. Dunkles Hefeweizen.
Jetzt schäme ich mich ein wenig. Als ob sich Irina noch an irgendwas erinnern würde, was ich ihr damals erzählt habe. So, als hätte sie tatsächlich irgendwas gehört, von dem, was ich gesagt habe.
Ich bin unglücklich, weil ich mich selbst erniedrigt, mich selbst beschmutzt habe. Sie scheint das nicht zu stören. Bringt mir mein Weizen, lächelt sogar kurz, und geht dann wieder.
Und wirft mir manchmal einen kurzen Blick von hinter der Theke vor.

Ich liebe Irina. Nicht so, wie ich Julia liebe, oder wie ich damals Klara aus der 11. Klasse geliebt habe. Und auch nicht so, wie ich meine Mutter oder Tante Gerda liebe. Irina ist eine Ikone. Sie verkörpert perfekt so viele Dinge auf einmal, die sie anbetungswürdig machen.
Sie ist Russin. Damit fängt’s schon mal an. Sie hat wunderbar große, dunkel geschminkte Augen, die unglaublich verletzlich aussehen können.
Und sie ist Barkeeper. Souverän, tough, cool. Der macht keiner so leicht was vor, und sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Von niemandem. Hat den kompletten Laden, und die ganzen Penner, voll im Griff. Sie weiß genau, wann sie lieb sein muss, wann sie hart sein sollte, und wann sie über einen Witz lacht. Selber macht sie keine Witze. Steht wahrscheinlich nicht in ihrem Vertrag.
Aber wenn sie lächelt, ihr scheues, wissendes Killer-Lächeln – dann biste bereit, deine Seele für sie zu verkaufen.

Ich versuche mir vorzumachen, dass ich wegen des Hefeweizens hier bin. Oder vielleicht wegen der tollen Einrichtung. Ein schäbiges Aquarium, riesen-groß und alt, in dem neben den ollen Fischen auch ein altes Skelett liegt. Oder das Riesenposter, von dem Fight Tyson versus Holyfield, das ich in einer betrunkenen Nacht schon mal klauen wollte. Das war die Nacht, als ich auch die Türen auf’m Klo ausgehängt habe. Wollte wahrscheinlich schon jeder mal klauen, das Ding. Bis jetzt isses immer aber noch da. Oder wegen des alten Flippers – das Ding ist Kult. Noch voll mechanisch – gibt’s fast nicht mehr, so was.
Aber ich belüge mich selbst. Ich bin nicht wegen des Biers, und auch nicht wegen des Aquariums hier.
Ich bin wegen Irina hier. Ich bin der Welpe, der sich vor Sehnsucht verzehrt. Und zwar immer dann, wenn’s woanders schwierig wird. Wenn ich eigentlich den Arsch zusammen kneifen müsste, dann komme ich hierher, und himmele Irina aus der Ferne an. Stelle mir vor, wie es wäre, mit dieser Ikone zusammen zu sein, ganz viele kleine Barkeeper-Kinder mit ihr zu haben. Die haben dann in meiner Vorstellung auch alle so dunkle, russische Augen.

Jedenfalls trinke ich gerade den letzten Schluck aus dem hohen Weizenglas. Den Schluck, an den man so schwer rankommt, und der eh fast nur aus Schaum besteht. Überlege, ob ich noch eins nehme, oder mich mit meiner leisen Melancholie wieder schleiche. Da ‚blindsided’ sie mich. Einfach so. Steht plötzlich seitlich neben mir, legt mir ganz weich die Hand auf die Schulter und beugt sich dann über mich.
Ich kann sie riechen, ihr Duft vermischt sich mit dem Geruch nach Weizen, aus dem immer noch halb erhobenen Glas. Ich bewege mich nicht, hab’ zu viel Angst, jede Bewegung könnte die falsche sein.
Ich rieche sie, und kann ihre Wärme an meiner Schulter fühlen. Und sie sagt, ganz leise, in mein Ohr: ‚Um eins hab’ ich Schluss.’
Dann ist sie weg, und nimmt ihre Wärme mit. Nur von ihrem Geruch lässt sie mir was da, und ich hülle mich darin ein. Mir ist fast schwindelig.
Fühle mich wie in der zweiten Klasse, als mich die kleine Sara am Arm berührt hat, und ich mich nicht mehr waschen wollte. Damals war’s vermutlich nur eine blöde Ausrede. Kleine Jungs waschen sich halt nicht gerne, aber jetzt ist es echt. Und ich überlege, was mir Irina wohl damit sagen will.

Der beste Teil am Barkeeper-Sein, habe ich immer gedacht, ist, dass man seine eigene Musik anmachen kann. Jedenfalls in der richtigen Kneipe.
Irina arbeitet in der richtigen Kneipe. An manchen Tagen hört sie (und wir damit auch) russisches Industrial, an anderen Tagen, ziemlich häufig, Trip-Hop. Die alten Sachen, Morcheeba oder Moloko.
Heute Abend hat sie Irish Folk aufgelegt. Oder vielleicht auch Scottish Folk, ich bin da nicht so bewandert. Jedenfalls Folk mit massig Fiedeln, und mir läuft es kalt den Rücken runter. Macht es bei so Folk sowieso immer, aber heute besonders. Passt auch gut zu meiner schmerzenden Melancholie. Und zu Irinas dunklen Augen.

Inzwischen habe ich es geschafft, das leere Glas abzustellen. Mich wieder ein bisschen zu bewegen. Aber nicht viel. Ich traue mich nicht.
Eigentlich ist alles klar – Irina sagt mir, wann sie Schluss hat, ich warte noch kurz die halbe Stunde, dann gehen wir zu ihr. Oder zu mir. Ganz einfach.
Aber so einfach ist das nicht. Warum ich? Und warum Irina, und warum heute Abend? Es kommt mir alles so unwirklich vor, ich suche nach dem Kleingedruckten. Nach dem Missverständnis – das sich auflösen wird. Das erklären würde, was wirklich gemeint ist, und wo ich dann mit peinlichem Lachen versuche, zu kaschieren, dass ich gedacht habe – dass ich wirklich gedacht habe, Irina hat mich gerade eingeladen, mit ihr zu schlafen.
Aber so sehr ich auch nachdenke – mir fällt kein anderes Szenario ein. Mir fällt nicht ein, was sie sonst gemeint haben könnte, was wirklich passieren wird.

Und so sitze ich um eins noch da, immer noch leicht geschockt, als sie die Bar an Mike übergibt, und hinüber kommt, mit ihrem kleinen Lächeln, und mich sanft an der Hand fasst, und mit sich zieht. Und zu den Klängen einer Folk-Ballade über ein junges Mädchen und ihre unerfüllte Liebe zu einem armen Soldaten nimmt mich Irina mit aus der Weißen Taube.
Nimmt mich mit zu sich.

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Kommentare zu diesem Text

Steinwolke (65)
(22.01.09)
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 Mutter meinte dazu am 22.01.09:
Danke schön ...

Ich habe tatsächlich schon ein, zwei dieser informellen Formulierungen beim Redigieren rausgenommen, weil sie unpassend waren.
Ich muss noch mal über die anderen Teile schauen, und sehen, ob Jakob das früher schon mal gemacht hat - mein Verdacht ist, dass der wirklich im Laufe der Zeit schnoddriger geworden ist. Dann müssen die auf jeden Fall raus ...

 Isaban (22.01.09)
Hach!

Ich würde "blindside" ja mit "toter Winkel" übersetzen, aber das würde so ganz und gar nicht zum Text passen. Was für eine herrliche Wendung am Ende - auch, wie gelungen "blindside" umgekehrt wurde.

Schau hier noch mal nach dem Zeitsprung:

so unausstehlich bin ich an dem Abend.

Schöner Text!

Liebe Grüße,
Sabine
(Kommentar korrigiert am 22.01.2009)

 Mutter antwortete darauf am 22.01.09:
Hach, ich wusste, dass ich deswegen gezuppelt werden würde ... :D

Das habe ich diesmal tatsächlich mit Absicht gemacht, weil eigentlich erzählt er ja aus der Gegenwart über die Vergangenheit. Ich wollte damit den Übergang machen.

Geht aber nicht, eh? *g*

Mmmh, bleibt mir also nur, das Ganze entweder in der Vergangenheit zu erzählen - was ich aber nur ungern machen würde, ist so viel indirekter - ODER ... keine Ahnung.
Vielleicht die Zeit zwischen den Sätzen/Absätzen wechseln? Ist zwar eigentlich nicht weniger unkorreckt, wird aber möglicherweise weniger als 'Fehler' missverstanden ...

*grübelgrübel*
Kitten (36)
(22.01.09)
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 Mutter schrieb daraufhin am 22.01.09:
Waswiewarum? Wenig fröhlich, und mit Hut? O.o
Erkläre Sie sich ...

Zu Julia: Na, eben iss ja auch schon ein paar Monate her ... :D
Ich gebe zu, bei diesem etwas nachlässigen Umgang mit Versatzstücken mag der ein oder andere, dem Kontext zuträgliche Teil, noch fehlen. Wird beizeiten nachgeliefert, versprochen ...
Kitten (36) äußerte darauf am 22.01.09:
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 Mutter ergänzte dazu am 22.01.09:
Oh Gott, die Emo-Braut hatte ich voll vergessen ... *grusel*
Nee, diss iss nich die Irina. Aber die Dame sollte man auch mal inner Geschichte verewigen - die war ja nich' von dieser Welt ... O.o

Überhaupt war das ein anderer Laden, weil:

- Wo iss das Tyson-Holyfield-Poster?
- Türen zum Aushängen gibt's da keine
- Und haste irgendwen mit Weizen vom Fass gesehen? ;)
Kitten (36) meinte dazu am 22.01.09:
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