Molly sieht sich ein paar Mal mit zusammen gekniffenen Augen um - orientiert sich. Irgendwer hat ihr offenbar exakt beschrieben, wo wir hinmüssen. Collie, nehme ich an.
Sie spricht kurz mit einem Araber. Ich bleibe währenddessen zurück und befingere am Stand eines jungen Verkäufers Konsolen-Cartridges: Mario Cart, Transcender, Warwind. Geiles Zeug, behauptet der Kerl. Ich nicke abwesend, behalte Molly im Auge.
Ihr Gesprächspartner nickt, schüttelt den Kopf, nickt. Sieht kurz hoch, lässt den Blick schweifen. Bleibt an mir hängen, für eine Millisekunde, scannt mich. Der Typ ist ein Pro.
Aber mir ist Latte, ob er mich erkennt. Versteht, dass ich zu Molly gehöre.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie eine alte Armeetasche kauft. Bezahlt. Ihr Wechselgeld bekommt. Was auch immer sie von dem Araber wollte – jetzt hat sie’s.
Als wir gehen, halten der Araber und ich noch kurz Blickkontakt. Er weiß, dass ich weiß, dass er weiß …
‚Wohin?’ will ich wissen, als wir aus den Hallen kommen.
‚Zum Wasser’, antwortet sie, schaut sich suchend um.
Ich deute nach Norden, nach Osten. Überall Landwehrkanal - freie Auswahl. ‚Geht’s etwas genauer?’
‚Wir suchen ein Hausboot. In der Nähe einer Brücke.’
Gedanklich checke ich den Kanal bis hoch zum Görlitzer kurz ab. Zwischen Kreuzberg und Treptow ein Hausboot? Eher nicht - der Arm wird bewirtschaftet.
Plötzlich weiß ich, wo es sein muss.
Ich übernehme die Führung und mache mich auf den Weg, warte nicht auf sie.
Molly wehrt sich nicht dagegen, folgt mir – sie muss offenbar nicht krampfhaft der Boss sein. Sehr gut. Dadurch könnten sich unsere nächsten gemeinsamen Tage etwas entspannter gestalten.
Nach ein paar hundert Metern stehen wir an einem Seitenarm des Kanals, hinter einer kleinen Schleuse. An unserer Seite liegen mehrere Boote, eins davon ein Hausboot. Die anderen sind kleine Lastenkähne, schon vollkommen verrottet.
Das Hausboot erinnert mich an ein typisches Haus in Kreuzberg: Runtergekommen, leicht angewrackt, aber noch in Schuss. Kann man noch gut drin leben.
Eine kleine Planke, mit einem Eisengeländer, führt rüber aufs Boot.
Wahrscheinlich mag ich grundsätzlich keine Boote - habe lieber festen Boden unter den Füßen. Bei Hausbooten ist allerdings klar: Die Reise dauert länger, das wird kein kurzer Ausflug.
Zögernd gehe ich hinter Molly über den Steg. Sie nickt - deutet an, es sei das Richtige.
Leise gehen wir an der Reling lang, bis zu einer niedrigen Holztür, die nach innen führt. Durch das im Holz eingelassene Glas und die kleinen Fenster kann man drinnen nichts erkennen. Es beginnt zu dämmern.
Molly drückt die Klinke herunter und schlüpft durch die niedrige Tür hinein. Kurz überlege ich, ob es mein Job wäre, vor ihr unbekanntes Territorium zu betreten. Feindesland auszukundschaften. Ob Collie von mir erwartet, ich solle den Bodyguard spielen.
Anscheinend erwartet zumindest sie das nicht. Ich habe kein Problem damit, ihr für den Moment die Führung zu überlassen. Immerhin hat von uns beiden sie das Briefing bekommen - sowohl vom Araber als auch von Collie.
Ich trete hinter ihr in dem dämmrigen Raum und ducke mich unwillkürlich. Die Decke ist nicht so niedrig, dass ich mir den Kopf stoßen würde, aber es fühlt sich an als ob.
Crimson, ein guter Kumpel von mir, wohnt auf einem Hausboot auf der Themse, in London Stanstead. Den hatte ich mal besucht und mir ungläubig angesehen, wie beengt er wohnt. Mit Chemi-Klo und Klapptisch. Ihm macht das nichts aus.
Er meint, die Weiber würden auf so etwas stehen: Überwucherte Böschung, der Sound von Grillen und Fröschen, glitzernde Lichter auf dem Wasser. Das sanft schimmernde Holz, die niedrigen Kabinen, ebenfalls mit viel Vollholz, und die ganzen Kissen. Viele Kerzen, klar.
Crimson behauptet: ‚Wenn ich eine erstmal auf dem Boot habe, mache ich sie klar. Gegen die Romantik der Themse haben die absolut keine Chance. Mein Fender ist nicht das einzige, was da feucht wird.’
Ist nicht ganz so romantisch hier wie bei Crimson. Kein lupenreines Liebesnest, aber gemütlich. Ich werfe einen Blick auf Molly, die sich kritisch umsieht.
Bei Crimson gab es zwei riesige Kater, weich und brummend, und jede Menge Spinnen. Kommt vom Wasser, meinte Crimson. Die Kater hatten die Viecher gejagt und gefressen.
Ich mag keine Spinnen. Die vielen Augen, klein und bösartig, und ihre haarigen Beine widern mich an.
Die Biester mit den malachitgglänzenden Augen sehen zu viel. Wofür brauchen die acht davon, außer um mich zu beobachten?
Ich sehe keine Spinnen. Das ist gut– weiß nicht, wie viel Verständnis Molly hätte, wenn ihr Passmann sich vor Spinnen fürchtet. Ekelt, eher.
‚Wonach suchen wir?’ frage ich sie, als sie sich weiter umsieht.
Die Irin zuckt mit den Schultern. ‚Den Bewohner?’ Schaut mich an, als sei ich geistig leicht zurückgeblieben.
‚Was willst du hier?’ frage ich weiter geduldig.
Sie scheint genervt, hebt mit schnellen Bewegungen Kissen vom niedrigen Holzsofa. Als würde sich, was sie sucht, darunter verbergen.
Vorsichtig trete ich an den tiefen Durchgang, der in die kleine Schlafkoje führt. Abgesenkt, eine kleine Treppe runter, weil oben drüber noch die Steuerkajüte liegt.
Drinnen ist niemand, im Übergang vom Halb- zum vollständig Dunklen gerade noch zu erkennen. Ein Matratzenlager.
Dann fällt mir am Türrahmen was auf.
Ich zeige Molly das bisschen Blut. Irgendwer ist hier raus, aus der Koje.
Ohne zu wollen.
Sie sagt nichts. Ich beobachte, wie sich die Muskeln an ihrem Kiefer bewegen. Das hier ist nicht gut – vermutlich sollte sie was abholen, oder eine Info bekommen. Jetzt ist der Staffelstab weg, gewaltsam entfernt. Ohne das Scheiß-Ding gibt es auch kein Finish – da macht kein Referee mit.
Viel wichtiger: Möglicherweise hat das Verschwinden des Stabes mit ihrem Auftrag zu tun. Sie sieht aus, als überlegt sie fieberhaft, was das für den Job bedeutet. Während sie auf der Tartanbahn weiter ihre Runden zieht.
Sie kommt zu einem Entschluss. Geht raus, telefonieren. Ich nehme an, sie spricht mit Collie. Ich trete ebenfalls aus der Wohnkajüte, auf die andere Seite des Decks. Gehe langsam die Reling entlang, taste das Schiff mit den Augen ab.
Nein, es geht nicht um eine Information – ich gehe davon aus, dass sie ihre Hardware hier bekommen sollte: Waffen, Munition, ihr Equipment. Konnte ihren Kram ja schlecht mit an Bord des Aer Lingus-Fluges nehmen.
Ist das Zeug jetzt weg?
Wer auch immer ihren Kontakt beiseite geschafft hatte – haben sie bekommen, was sie gesucht haben? Vielleicht wollten sie Mollys Ausrüstung, vielleicht was anderes. Möglicherweise hat das gar nichts mit ihr zu tun. Mit uns.
Es fällt mir schwer, an diese Variante zu glauben.
Mustere die Reling, betrachte all das Zeug, was da hängt und rumliegt, das suggeriert, dieses Schiff wäre tatsächlich ein Schiff, nicht ein schwimmendes Haus.
Nachdenklicht mache ich einen Schritt nach vorne, lasse die Hände über ein Tau gleiten. Als ich mich über die Bordwand lehne, sehe ich die Fender. Drei Stück hängen entlang der Reling über dem Wasser.
Zwei weitere Taue, beide vermoost, führen achtern raus. Eins dick und stramm, zum Ufer hin, das andere dünner, ins Wasser. Ich drehe den Kopf – vorne geht ein weiteres dickes Seil zum Ufer, hält uns gegen die Strömung fest.
Misstrauisch gehe ich das Boot entlang, nach hinten. Will wissen, wofür das Tau dort ins Wasser hängt. Ankern würde man hier auf dem Landwehrkanal wohl kaum. Das Schiff ist ohnehin vertäut.
Das feuchte Seil bewegt sich träge unter meinen Händen. Prüfend ziehe ich daran, teste das Gewicht. Ich federe leicht in die Knie und beginne, es einzuholen. Das Gewicht dort unten wehrt sich, will im Wasser bleiben, wie eine Nixe, die sich gegen ein schmerzhaftes Leben an Land sträubt. Die kleine Meerjungfrau. Ich bin ihr unbarmherziger Liebhaber, hol ein, hol ein, grunze ich vor Anstrengung. Endlich ist die Nixe aus dem Wasser, wirft ihr ganzes Gewicht ins Tau. Zwanzig Kilo, mehr nicht. Aber ich stehe ungünstig.
Macht nichts, muss ich mich mehr ins Zeug legen.
Meine Belohnung ist eine grüne Persenning, die an der Reling auftaucht. Ich halte das Gewicht, verändere vorsichtig meinen Stand. Entschlossen packe ich mit der Rechten das Bündel, grunze, mache eine schnelle Körperdrehung und lasse das Seil fahren. Packe die Persenning mit beiden Händen.
Arbeite den Körper langsam an den Bootsrand ran, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, bringe die Füße drunter, die Knie.
Vorsichtig wuchte ich das Paket an Bord, das Brackwasser speit. Ihr Kontaktmann scheint es nicht zu sein. Oder zumindest nicht komplett. Vielleicht haben sie Teile abgehackt und ins Wasser geworfen.
Ich steche das ausgeklappte Einhandmesser in den groben Stoff und schlitze einen Teil davon auf. In dem Paket befindet sich kein Mensch, und keine Teile davon. Was sich dort im Wasser befunden hatte, ist hart und kantig. Mollys Equipment.
Bevor ich einen Blick auf die geheimnisvollen Innereien werfen kann, spüre ich ihre Hand auf meiner Schulter.
‚Ich übernehme das’, stellt sie mit kühler Stimme fest.
Von unten, kniend, sehe ich zu ihr auf. Überlege, ob es sich lohnt, für meine Beute zu kämpfen. Vermutlich nicht. Die Hyänen überlassen den Löwen das Feld.
Während ich mich erhebe und ihr Platz mache, fällt mir auf: Ich habe sie nicht kommen hören.
Geschmeidig kniet sie sich nieder, sieht mich an. Wartet.
Ich zögere einen Augenblick, presse die Lippen aufeinander und gehe. Sie hat gewonnen. Mit missmutigem Blick stoße ich die Fäuste in die Taschen und sehe mich um. Inzwischen ist es nahezu komplett dunkel.
Die ganze Sache stinkt zum Himmel. Ich frage mich, was Collie dazu gesagt hat.