Zehn Jahre Knast

Erzählung zum Thema Abschied

von  Mutter

Neulich habe ich Knast wiedergesehen, irgendwo auf Pauli. Ich weiß nicht genau, wann ich ihn das letzte Mal getroffen hatte, aber zwei, drei Jahre ist es bestimmt schon her.
Ruben und ich waren bei einem Spiel am Millerntor und sind dann noch runter auf den Kiez gespült worden, als ich ihn da plötzlich stehen sah.
Kaum verändert, immer noch der alte Knast - so, wie ich ihn in Erinnerung hatte.

Wir sind ihm damals im Molotov das erste Mal begegnet. Keine Ahnung, wie er es an den Bouncern vorbei geschafft hat. Die anderen Gäste waren eher unser Klientel: Anfang Zwanzig, viele Studenten. Der DJ spielte quasi meine CD-Sammlung hoch und runter: Radiohead, Sleeper, PJ Harvey, …
An dem Abend gab es Apfelkorn satt – für umme, lau. Und da stand dann dieser alte Kerl an der Bar, mit seinem hervorstehenden Rauschebart, und meinte zu jedem, der dort an der Theke aufschlug: ‚Kommt, Männers, ich lad euch ein. Die nächste Runde geht auf mich. Einmal Appelschnaps für die Jungens hier!’ Dann machte er eine herrische Geste in Richtung des gutmütigen Barkeepers, der brav unsere Gläser füllte. Und dessen Lächeln zu sagen schien: Macht Euch nichts draus, der Kerl ist harmlos. Größtenteils.
Irgendwer ist dann mit ihm ins Gespräch gekommen, ich glaube es war Ruben. Hat sich große Teile des Abends mit ihm unterhalten und uns anderen später erzählt, der ulkige Kerl hieße Knast.

In der nächsten Woche sind wir ihm dann noch mal begegnet, wieder auf'm Kiez. Er hat Ruben überschwänglich begrüßt und die beiden haben sich kurz unterhalten. Der Rest von uns wollte weiter, ungeduldig, vom Jieper auf das erste Bier getrieben. Deswegen hat ihn Ruben einfach mitgenommen. In den Pudelclub.
Es gab deswegen Stress – am gleichen Abend, aber auch später noch. Ein paar wollten den ‚alten Sack’ nicht dabei haben, fanden ihn creepy.
Aber Knast macht Laune, entgegnete Ruben nur und er behielt Recht. Der alte Kerl hatte jede Menge spannendes Zeug zu erzählen, und es machte einfach Spaß, ihn dabei zu haben. Innerhalb kürzester Zeit gab es niemanden mehr, der Knast nicht wollte. Oft fragten andere sogar explizit nach, ob wir unser Maskottchen mitbringen würden.
Machten wir – jedes Mal.

Obwohl er fast dreißig Jahre älter als wir anderen war, wurde Knast zu einem festen Bestandteil unseres Freundeskreises. Wir nahmen ihn mit zum Brunch bei Freunden, saßen mit ihm in unterschiedlichsten Wohnzimmern bei ein paar gepflegten Flaschen Astra und wir gingen mit ihm in die Clubs. Oder verbrachten ganze Nächte am Alsterstrand, am Lagerfeuer. Egal, was anstand – Knast war dabei.
Die Mädels mochten ihn. Mit ihnen machte er dauernd Scherze, neckte sie und er passte auf sie auf. Wenn einer von uns Jungs zu derbe Witze machte, oder es zu Streitereien wegen der One-Night-Stands verschiedener Gruppenmitglieder kam, ergriff er immer ihre Partei. Er sah uns dann an, mit hochgezogenen buschigen Augenbrauen, und hob nur drohend den Finger. Jeden Streit entschied er zu ihren Gunsten.
Dafür vergötterten sie ihn. Ich nehme an, es lag auch unter anderem daran, dass er eher eine Vaterfigur als einen potentiellen Partner darstellte. Es gab keine Eitelkeiten, keine Flirts, keine missverstandene Liebe zwischen Knast und den Mädchen.
Keine von ihnen hatte jemals was mit ihm, obwohl es uns Männer nicht überrascht hätte. Aber so was kam für Knast nicht in Frage.
Aber auch wir Jungs waren von ihm fasziniert.

Knast war wie eine Art Impromptu-Künstler, auf der Bühne des Lebens, dessen Vorstellung wir gerne und mit glitzernden Augen verfolgten. Publikum und Mitspieler zugleich darstellten.
Üblicherweise führte er uns über die Straße, immer mit dem lauten Ruf: ‚Kommt Männers, es iss Rot. Folcht mir!’
Das taten wir – Knast entwickelte sich bei unseren abendlichen Ausflügen schnell zu einem ergrauten Leitwolf. Es war nicht so sehr, dass er uns wirklich anführte, als vielmehr die Tatsache, dass sich von uns anderen niemand um die Alpha-Rolle streiten wollte, wenn er dabei war. Wir waren einfach zufrieden, unsere üblichen Streitigkeiten und Konflikte für den Moment beizulegen.

Nach ein paar Jahren ging diese Zeit zu Ende. Wir hatten uns in Hamburg getroffen, um zu studieren. Und so sehr einige von uns den Abschluss auch herauszögerten, irgendwann mussten fast alle von uns gehen. Ruben und ich bekamen einen Job in Berlin, Toni ging nach Schleswig und Mustafa zog zurück nach Dortmund. Nur Kasper würde bleiben.
Ruben schlug irgendwann vor, wir könnten ihn doch einfach mitnehmen, nach Berlin zum Beispiel.
Knast lächelte nur traurig und schüttelte den Kopf. Dann sagte er, den Hals vorgestreckt, so dass Ruben ihm tief in die Augen sehen konnte: ‚Männers, ihr müsst noch viel leben im Lernen.’
Und bevor wir ihn verbessern konnten, fuhr er fort: ‚Und andersrum natürlich auch.’ Dann schüttelte er wieder den Kopf. ‚Mich kann man nich so einfach mitnehmen. Ich bin zu alt zum Umpflanzen. Ich würde woanners eingehen wie eine Primel, Jungs, davon könnta mal ausgehen.’
Er nahm einen langen Zug von seinem Astra und stellte dann fest: ‚Hamburch iss Knast. Und Knast iss Hamburch. So einfach issas.’
Er sah sich um und warf einen missbilligenden Blick auf unsere noch halbvollen Pullen. ‚Trinkt aus, Männers, die nächste Runde wartet nich!’

Als ich ihm dann wieder gegenüber stehe, unsicher, weil seitdem so viel Zeit vergangen ist, erinnere ich mich an all die Sachen, die wir gemeinsam erlebt haben. An die Parties in der Roten Flora, die Zeit auf dem Kiez oder in der Schanze. An das, was er uns gegeben hat.
Ich lächele ihn an, begrüße ihn. Schlage ihm auf die Schulter, aber es kommt keine Reaktion.
Knast erkennt mich nicht.
Er bewegt nur die buschigen Augenbrauen, verwirrt oder misstrauisch, keine Ahnung, und sucht nach irgendwas zum Dran-Festhalten in meinem Gesicht. Ich nenne die Namen der anderen, versuche, ihm auf die Sprünge zu helfen, aber es bringt nichts.
Von unserer gemeinsamen Zeit ist nichts mehr übrig im Kopf von Knast. Freigang.

‚Sach ma, min Jung, du hättest nich zufällich ein Büschen Kleingeld auf Tasch, was du vielleicht losschicken willst, inne weite Welt? Büschen Kleingeld, was flügge werden muss?’
Wortlos nicke ich und drücke ihm den Inhalt meiner Hosentasche in die verschwielte Hand. Knast kontrolliert kurz das Geld und quittiert dann die Übergabe mit einem professionellen Nicken.
Tippt sich an die Mütze, dreht sich um und ruft, als er am Bordstein steht, mit lauter Stimme: ‚Kommt Männers, es iss Rot! Folcht mir!’
Ich sehe ihm zu, wie er in der Masse auf dem Kiez verschwindet.

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Kommentare zu diesem Text

Elvarryn (36)
(13.05.09)
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 Mutter meinte dazu am 13.05.09:
Ach, das mit der Titeländerung war Dummheit. Blanke, sozusagen ...
Ursprünglich hieß der Text 'Zehn Jahre Knast' - dann wurde mir angeraten, den lieber 'Hamburg (oder Hambruch, whatever ... :D) iss Knast' zu nennen.

Leider bemerkte ich nach dem Uppen, dass ich bei der Hörversion schon den alten, ersten Titel 'reingesprochen' hatte. Und hab' ihn dann wieder geändert ...

Warum? :)
Welcher gefällt Dir besser?

Ansonsten: Danke.
Elvarryn (36) antwortete darauf am 13.05.09:
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 Mutter schrieb daraufhin am 13.05.09:
Na dann ... :)

Danke.
mannemvorne (51)
(13.05.09)
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 Mutter äußerte darauf am 13.05.09:
Gute Auszeichnung ... :)

Danke sehr.
Steinwolke (65)
(13.05.09)
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 Mutter ergänzte dazu am 13.05.09:
Flora /= Zora ... Oh Mann, ja, Scheiße ... :D

Zum Knast: Mmmh, mmmmh, ich fürchte, ich weiß, was Du meinst. 'Fallhöhe' ist nicht verkehrt ...
Bin nicht sicher, ob mir was Griffiges einfällt, schleppe den schon eine ganze Weile mit mir rum, aber ich denke mal weiter drüber nach.

Zum Präsens - Oh Mann, ja, da habe ich schon ziemlich hin und hergeschoben. Weiß gar nicht mehr, warum der Anfang am Ende NICHT mehr im Präsens war. Werf ich auch noch mal einen Blick drauf ...

Danke Dir.
Perkele (40)
(14.05.09)
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 Mutter meinte dazu am 14.05.09:
Haste gesehen? Diesmal habe ich extra was anderes eingestellt, für Dein iTunes. Wobei in diesem Fall 'Blues' wahrscheinlich passender gewesen wäre ... :D

Naja, Knast hätte sicher auch Grunge gehört - ich schätze, der war da nich so ...

Danke schön.

 SunnySchwanbeck (14.07.09)
Auch beim zweiten mal lesen (und hören) immernoch ein lächeln im Gesicht ;)
Gefällt.

lg
Sunny :p

 Mutter meinte dazu am 14.07.09:
Oh, danke schön ... :)

 mr.d (17.08.22, 21:41)
Hach, da kommen Erinnerungen hoch. Von 2006 bis 2016 war ich auch Hamburger. Geile Zeit! Molotov war immer geil. Was hab ich mir da die Festplatte formatiert.....

Daumen hoch
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