Was will Winterhoff?

Erörterung zum Thema Erziehung

von  Hoehlenkind

Für seine Theorie, warum Kinder zu "Tyrannen" werden, hat Winterhoff drei Schubladen von "Beziehungsstörungen" gebastelt, mit den Etiketten "Partnerschaftlichkeit", "Projektion" und "Symbiose". In jeder dieser Schubladen ist neben einigen wirklichen Störungen noch genug Platz, um ungeliebte abweichende Vorstellungen vom Umgang mit Kindern mit hineinzupacken, auch wenn sie keinerlei Probleme hervorrufen. 

Partnerschaftlichkeit, also eine gleichberechtigte Beziehung mit gegenseitigem Respekt, ist für ihn eine Beziehungsstörung, wenn es um Kinder geht. Die wirklichen Störungen, die in diese Schublade passen, sind Überforderungen, wenn ihnen Entscheidungen abverlangt werden, für die sie noch nicht reif sind. Doch das Recht bei der Gleichberechtigung bedeutet entscheiden zu dürfen und nicht entscheiden zu müssen. Und wenn von Überforderung der Kinder die Rede ist, muß auch bedacht werden, das Kinder ja auch bei autoritärer Erziehung nicht frei sind von Entscheidungszwang. Sie müssen sich immer wieder entscheiden, ob und wieweit sie gehorchen und dabei ihre eigenen Bedürfnisse unterdrücken, vielleicht die schwerste aller Entscheidungen.


Warum Winterhoff die zweite Schublade Projektion nennt, bleibt unklar. Eigentlich ist dies ein seelischer Mechanismus, der bewirkt, dass wir negativ bewertete Eigenschaften und Motive, die wir bei uns selbst oder uns nahe stehenden Personen nicht wahrhaben wollen, umso mehr bei anderen erkennen wollen. Denen wird dann unterstellt, was wir bei uns verdrängen.

Hier hinein steckt er alle, die "von Kindern geliebt werden wollen". Er hat recht, dass es nicht Aufgabe der Kinder ist, die Eltern zu lieben. Es tut Kindern auch nicht gut, wenn sich Eltern ihnen unterwerfen und sich von ihnen führen lassen. Das sagt sogar Jean Liedloff, die sonst eine ihm völlig entgegengesetzte Einstellung zu Kindern vertritt, in ihrem Artikel "Wer übernimmt die Führung?-Die unglückseligen Folgen, wenn sich alles ums Kind dreht."
(http://www.continuum-concept.de/lied4.htm)

Doch Winterhoff interpretiert auch jegliches Verständnis und Mitgefühl für Kinder als "geliebt werden wollen". Auf die Beschwerde einer Mutter über Freunde, die sich in der Frage des Zu-Bett-Gehens mit ihrem Kind solidarisierten, antwortet er: "Viele Erwachsene wollen auch von anderen Kindern geliebt werden und somit auch von Ihrem. Und sie sehen sich in Ihrem Kind und empfinden damit Ihre gesunde Grenzsetzung als eine Eingrenzung ihrer selbst." Verständnis und Mitgefühl, das ein Erkennen und Nachempfinden von anderen in sich selbst ist, wird so auf den Kopf gestellt und als Projektion diffamiert.

Die dritte Schublade "Symbiose" ist für die schwersten Fälle. Zum Beispiel für Eltern, die Lehrern und Erziehern "in den Rücken fallen", also ihre Kinder auch noch unterstützen. "Im Rahmen der Symbiose verschmilzt der Erwachsene seine Psyche mit der des Kindes, er behandelt das Kind, als sei es Teil seines eigenen Körpers. Das heißt im übertragenen Sinn: positive Zuwendung an das Kind ist gleichsam auch positive Zuwendung an den Elternteil. Entsprechend ist Kritik am Kind auch Kritik am symbiotischen Erwachsenen." Das Problem ist, dass nicht nur krankhaftes Nicht-unterscheiden-können solche Symptome zeigt, sondern auch normale Liebe von Eltern zu ihrem Kind.

Um diesen Schubladen zu entgehen, ist also ein sehr distanziertes Verhältnis zu Kindern nötig, am besten ohne Respekt, ohne Verständnis und Mitgefühl, ohne Liebe. Das Kind muss "als Kind" gesehen werden, in eine traditionelle Rolle gedrängt werden, die ihnen von Erwachsenen zugeteilt wird, deren Verbindung zur eigenen Kindheit unterbrochen ist. "Sie finden sich in der gut gemeinten Freiheit überhaupt nicht zurecht", lernen nur Eltern und Lehrern zuliebe, und sind zu nichts fähig, was ihnen Erwachsene nicht wiederholt eingetrichtert haben. Alles in allem genau das Bild vom Kind, das es Erwachsenen ermöglicht, jegliche Machtausübung gegenüber Kindern zu begründen.

Beschönigt wird dies noch durch das Motto "Kinder müssen Kind sein dürfen". Als wäre es das Bedürfnis der Kinder, in diese Rolle des absolut Unfähigen gesteckt zu werden. Für ihre wahren Bedürfnisse, sie selbst zu sein, ihre eigenen Weltbilder zu entwickeln und ihre eigenen Wege zu gehen, bleibt da kaum noch Raum.

Kindern, die sich nicht so verhalten, wie er es erwartet, unterstellt er eine unterentwickelte Psyche. Dabei definiert er Psyche recht merkwürdig und eigenwillig. Aus einem Interwiew :

"Sehen Sie: Sie haben die gleiche Psyche wie ich, auch wenn wir unterschiedlich sind."
...
  "Die individuellen Anteile sind für mich als Psychiater nicht relevant, die braucht man in einer Freundschaft oder Berufsberatung."
...
"Die Psyche hat zwei Bereiche. Das eine sind psychische Funktionen: Frustrationstoleranz, Gewissensinstanz, Arbeitshaltung, Erkennen von Gefühlen und so weiter. Diese Funktionen müssen Sie von klein auf dem Kind abverlangen und antrainieren. Eine Frustrationstoleranz kommt nicht automatisch, sondern darüber, dass das Kind lernt auszuhalten, abzuwarten. Der zweite Bereich sind Weltbilder. Unser Weltbild beruht auf der Vorstellung, wir seien Individuen im Rahmen einer Gesellschaft."
http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/4750

Es geht bei ihm um Anforderungen der Gesellschaft ( oder Teilen der Gesellschaft) an Kinder oder Menschen allgemein oder auch um kulturelle Prägung. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Psyche, und die Psyche hat Auswirkungen darauf, ob diese Anforderungen erfüllt werden. Doch das mit der Psyche selbst zu verwechseln, ist etwa so, als würde man Pornographie und Sexualität verwechseln. Jeder Mensch hat eine Psyche, unabhängig davon, ob und welche Anforderungen erfüllt werden. Und jede Psyche ist individuell, sie ist das Ergebnis von ganz individuellen Gefühlserfahrungen, von Schmerz, Angst, Wut, Scham usw. Wenn das für einen Psychiater nicht relevant ist, dann sagt das etwas über ihn aus oder über seinen ganzen Berufsstand.

Sein zweites Buch hat den Untertitel "Warum Erziehung nicht reicht", seine Vorstellungen nennt er ganz modern "beziehungsorientierte Konzepte". In einem Interview taucht sogar die ursprünglich antipädagogische Parole "Beziehung statt Erziehung" auf. Das geht natürlich nur durch recht eigenwilliges Umdefinieren sowohl von Beziehung als auch von Erziehung.

Beziehungen zu Kindern sind für ihn nur eindeutig hierarchisch denkbar, in der Praxis eine ständige Kontrolle und Zurechtweisung. "Es ist viel wichtiger, dass ich Zeit habe für das Kind, nicht, um die gleich wieder zu füllen, sondern um es im Alltag zu begleiten, beim Zimmeraufräumen, Hausaufgaben machen, waschen." Zum Dank decken Kinder dann aus Liebe zu solchen Eltern den Tisch und lernen in der Schule aus Liebe zu solchen Lehrern. Kommt da jemand auf den Gedanken, dass hier vielleicht Liebe mit Furcht verwechselt wird?

Unter Erziehung versteht er nur deren rationalen Teil, das Lernen von Regeln und natürlich auch anderen Inhalten. Er lehnt solche Erziehung nicht ab, hält sie aber erst mit zunehmendem Alter für zweckmäßig. Mit Kindern zu diskutieren hält er für eher schädlich, weil er davon ausgeht, das Kinder eh kaum etwas verstehen können. "Einsichtsfähigkeit können Sie allerdings bei einer gesunden Reifeentwicklung erst mit 15, 16 Jahren voraussetzen."

Worauf es ihm ankommt, ist das "Training der Psyche", also eigentlich auch Erziehung, aber psychisch-emotional. "Ihre Nervenzellen müssen zuerst trainiert werden und das geht nur durch Wiederholung, nicht durch Verstehen. Eine Mutter muss ihrem Kind vier Jahre lang jeden Tag sagen, dass es nach dem Essen seinen Teller wegräumen soll. Mütter müssen zur lebenden Schallplatte werden von morgens bis abends. Sonst werden die Nervenzellen nicht trainiert."
http://www.stern.de/politik/panorama/:Erziehung-M%FCtter-Schallplatte/621036.html?eid=620634

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Kommentare zu diesem Text


 MagunSimurgh (04.07.09)
Hallo Hoehlenkind,

hm – das ist also eine Erörterung? Okay, dann möchte ich es auch als eine solche behandeln.
Im Voraus sei gesagt: Ich möchte hier nicht deine Erziehungsideale angreifen, die ich weder beurteilen kann, noch sehe ich das Recht, das zu beurteilen in meiner Hand. Es geht mir ausschließlich um deine Argumentationsstrategie.

Hat mich das Vorwort deiner Auseinandersetzung noch sehr neugierig gemacht, lässt mich dieser erste Teil doch sehr abgeneigt dem Ganzen gegenübersitzen. Warum? Mein Hauptkritikpunkt ist deine offenkundige Wut auf diesen Herrn Winterhoff. Du greifst ihn persönlich an, indem du sehr deutlich zu verstehen gibst, was du von ihm und seinen Ansichten hältst. Er habe „Schubladen gebastelt“, „Er hat Recht“,... Immer geht es um ihn oder er oder seine Person.
In einer Auseinandersetzung wie dieser machst du dich aber genau damit unglaubwürdig, weil du ihn als Person so oft benennst. Du greifst damit seine Person an, nicht seine Argumentation. Womit ich bei meinem nächsten Kritikpunkt wäre: Du nennst den Artikel „Was will Winterhoff?“, erklärst aber nicht sachlich, was er denn will, sondern fährst direkt deine Geschütze auf, um Argumente zu zerstören, von denen der geneigte Leser kaum etwas verstehen kann, wenn er das Buch nicht gelesen hat. Wenn du jemanden zum Nachdenken bringen willst, dann musst du ihm auch erklären, was dich so empört, nicht gleich darauf einprügeln.
So bleibt das Ganze mehr ein überlanger, erregter Leserbrief, von dem der Herr gar nichts weiß.
Du gehst für den ersten Teil der Auseinandersetzung viel zu weit – Folgen und deine Meinungen und so weiter interessieren an dem Punkt noch gar nicht, weil ich als Leser erstmal wissen will, worum es dir überhaupt geht. Nämlich um Winterhoffs Theorien. Und darin bleibst du mir viel zu pauschal. „Winterhoff interpretiert...“.
Der Herr versteht unter Psyche nicht das Seelenleben, das du vermutlich darunter verstehst, sondern die Verhaltensprogrammierung eines Menschen, inwiefern das jetzt wissenschaftlich korrekt ist, müsste ich mich auch erst belesen oder jemanden fragen, der sich mehr damit auskennt. Fakt ist, es gibt gewisse „Fehlprogrammierungen“ in diesem Verhaltensprogramm (das tatsächlich vor allem durch Nachahmen und Aufforderungen durch die Eltern entsteht.) und das sind die Störungen, von denen der Mann spricht.
Aus deinen Ansätzen hier schließe ich mal, dass er da sehr radikal war und vieles als Störungen interpretiert, was nicht zwangsläufig eine ist, na ja, das ist nun mal Wissenschaft. Ich bin auf dem Standpunkt: Eine Macke wird dann zur Störung, wenn sie das Leben des Betroffenen massiv zum Negativen beeinträchtigt. Fakt ist für mich auch, dass Eltern über ihrer Liebesbindung (siehe Erich Fromm – die Entwicklung der Liebesfähigkeit) hinaus eine erzieherische Distanz haben sollten, um nicht aus den Augen zu verlieren, wozu sie ihr Kind eigentlich erziehen wollen. Nur mit Freiheiten funktioniert das nicht.
Kinder unterliegen einer Entwicklung, gewisse Sachen können sie erst ab einem gewissen Alter (Empathie entwickelt sich zum Beispiel zu einem gewissen Zeitpunkt, vorher können sie sich nicht in die Lage eines anderen versetzen.).

Aber genug... was mir fehlt, ist einfach eine Fundierung deiner Argumentation und eine klarer Zusammenfassung von Winterhoffs Theorien. Zynische Kommentare wie „ als würde man Pornographie und Sexualität verwechseln.“ Sind nichts sagend und pauschal und zeugen für den neutralen Leser mehr von einer Trotzreaktion auf das Buch als von klarer, analytischer Auseinandersetzung mit dem Thema.

Wie gesagt, mir fehlt hier einfach die strukturierte Basis.

Liebe Grüße,
Magun

PS: Der Seitenhieb auf das Berufsbild des Psychiaters war auch überflüssig. Und es besteht tatsächlich ein Unterschied zwischen einem Psychiater und einem Freund. Ein Psychiater muss nämlich erkennen, was für eine Hilfe ein Patient braucht und ob überhaupt, das Individuelle spielt da nicht unbedingt in der ersten Sekunde eine Rolle. Wie beim Arzt, der schaut auch nicht zuerst, ob man mehr zu laufender Nase oder zu Niesen neigt, sondern sucht die krankheitliche Ursache.

(Dass das Buch von Winterhoff womöglich billiger Populismus ist, mag ich gar nicht bestreiten, aber diese Auseinandersetzung ist es für mich auch.)
(Kommentar korrigiert am 04.07.2009)
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