Gibt es etwas uncooleres als Jugendproduktdesign aus Japan?

Innerer Monolog zum Thema Schreiben

von  Judas

Sie umringten sich wie zwei ausgehungerte Pumas, gefangen zwischen Hunger und dem Wissen des ebenbürtigen Feindes, der einstmals ein Freund war. Doch unerwartet traf ihn die starke Linke seines Gegners und Speichel, vermischt mit zähem Blut, floss ihm aus dem Mund, als er hart auf den Boden aufschlug.

Das ist nicht der Anfang den ich suche, nicht der, den ich suche! Es fällt schwer, zwischen träger Dummheit und unbegründetem Selbstbewusstsein, die durch den Hörsaal wehen, an etwas anderes als Mozzarella mit Tomaten und Balsamico zu denken.
Mein Schicksal wäre beinahe bedauernswert zu nennen, wenn ich es nicht wäre der dieses Bedauern überhaupt erst herbeigeführt hätte. Träumelang sah ich mich als einen der Künstler, die ausgesorgt haben. Die das Schreiben zu Ruhm, Reichtum und Häusern in Norwegen gebracht hat, aber dann sehe ich – halbwegs geistesbehellt – auf das, woran ich arbeite: nichts. Ich glaube, die Klischees stimmen, denn im Spiegel sehe ich den Beweis. Entweder gammeln Studenten, schleifen Jutebeutel hinter sich her und verwesen schon bei dem Gedanken an sechs Veranstaltungen die Woche. Oder sie erfüllen das Bild des klassischen Strebers, den man noch von der Schulbank kennt und der einen in Latein nie hat abschreiben lassen. Oder sie trinken Bonaqua mit Aloe Vera und Himbeer Geschmack und finden, dass E.T.A. Hoffmann „senfgelb“ ist. 
Aber ich schweife ab! Muss unbedingt daran denken, diese Randnotizen hier wegzuknüllen. Ich komme mir vor wie einer dieser Blogger, oder wie man die modernen Tagebuch-Autoren so nennt. Denn ich will einen Anfang finden.  Einen der einzigartigen Sorte, einen der den Schritt zum Weg in die rechte Richtung geht.

Nie hätte sie geglaubt, dass ihr MySpace-Account graue Erinnerungen an eine Seelenverwandtschaft zu buntem Leben erweckt. Es dauerte nicht eine Woche, da hatte sie den Flug bereits gebucht, der sie nach Liverpool bringen sollte. Die Stadt, in der ihr der Geist und die Stimme von Jeff Buckley erwarten würde, in Gestalt des Mannes, der ihr vor beinahe sieben Jahren den Unterschicht zwischen much und many erklärt hatte. Auf einer Ski-Piste in-

Kann man eigentlich sein Talent verlieren? Kann ein Kerl wie ich so tief sinken? Talent wohl kaum. Fantasie sehr wohl. Ich habe das größte KreaTief seit der Erfindung der DokuSoap.
Jesus! Ob ich schon zu einem dieser abgestumpft-alternativen Indi-Bionadetrinker geworden bin? Vielleicht. What you deserve is what you get…

Es ist Mittwoch. Nachdem ich mir die halbe Nacht mit Akte  X um die Ohren gehauen habe, half nur noch heiße Milch. Ha, ihr Mate-Tee-Trinker, ich bin wohl doch nicht an euer Kollektiv angeknüpft!
Ich habe nur noch sechs Tage. Sechs Tage, die mich von dem Gefasel über Ruhm, Reichtum und Norwegen von ernsten Worten über eben das trennen.
Es müssen Ungläubige zu Glaubenden werden. Zweifler zu Liebenden. Gelächter zu Lachen. Dozenten zu Studenten. Erwachsene zu Kindern. Der McDonalds im Bahnhof zu einem Comic-Laden.
Und nebenbei bemerkt ist mein Kontostand so armselig wie Leute, die rechtsradikales Gedankengut als politische Alternative sehen.
Deshalb: Scheiß auf NDL. Scheiß auf Textanalyse. Heute schreibe ich den Anfang der Geschichte meines Lebens.

Ein Tag namens Scheitern. Mein klägliches Versagen manifestiert sich in Form unbeschriebener Seiten. Das, was ich gestern an Ideen zusammen gestammelt habe, lohnt nicht einmal das Aufschreiben auf diese Schmierzettel. Meine Gedanken sind so bröselig wie Zwieback unter ’nem Traktorreifen. Aber dieses farblose Konfetti in meinem Kopf verhindert nicht nur die Entstehung der besten Kurzgeschichte des Jahres.
Ich hab’ verpennt.
Ist mir noch nie passiert.
Die Angst, dass diese Chance durch meine Hände gleitet, ist vernichtend. Auch heute wird sie mich nicht schlafen lassen. Aber wen interessiert schon das Lexikologie-Seminar. Nur; wie kann ich einschlafen… wenn ich nicht vorher aufwache?

Oh Gott schlag’ mir deine Faust mitten ins Gesicht und sage mir, dass ich lebe! Wie kann ich glauben, wenn du der Allbarmherzige bist und jedem vergibst? Wenn jeder der Menschen einen Platz neben dir im Himmel findet (ausgenommen die Atheisten, ja nee, schon klar)? Wenn das Fegefeuer von der Kirche erfunden wurde? Und die Hölle exothermisch ist?
Die Faust wird nicht kommen. Genauso wenig, wie es regnen wird, weil ich weine. Oder überhaupt irgendwer weint. Dann würde ja in Afrika nicht ständig Dürre herrschen, immerhin heulen da ständig wasserbäuchige Kinder, wenn ihre Eltern gerade unter der Totenplane verschwinden. Die Kriege der Zukunft werden nicht um Öl gefochten, sondern um Wasser.


Es ist Montag. Es ist Montag und ich bin ein Genie. Psychedelische Träume zeigten mir wie in einer Prophezeiung Bilder über Glaube und Religion, über Menschsein und Nichtmenschlichsein in violett und neongrün. Verzerrte Fratzen die mir auch jetzt noch so farbig im Gedächtnis sind wie ein Gemälde von Edward Munch. Aber so seltsam, so skurril der Traum auch war – er brachte mir zurück, was ich schon begraben wollte. Meine Fantasie und meinen Faible für die absonderlichen Geschichten. Ich habe die Idee zu einem Text gefunden und sie ist gut. Er hat auch schon einen Titel – Lytuwonis. Geht in medias res – so wie der Faustschlag Gottes, um den am Anfang des Ganzen vom lyrischen Ich gebeten wird.
Die Idee, die mich gepackt hat, ist so fantastisch wie einfach, so bekannt wie brillant. Ich werde sie umsetzen und wenn ich mir die ganze Nacht die Finger wund tippen muss und wenn ich Dienstag die Vorlesung aus freien Zügen verpasse und wenn mir von Kaffee und Cola schlecht wird. I don’t hate Mondays, I don’t hate Mondays…

Es ist Mittwoch. Ich habe es jetzt erkannt – es lag gut sichtbar in den Gesichtern der Leute um mich herum: Wenn du schreiben willst, dann schreib verdammt noch mal das, was die lesen wollen. Über lauwarme Kritik an dem Gesundheitssystem. Schreib’ was für’s Mittelschichtenbildungsbürgertum – lass Worte wie „subaltern“ fallen und verweise auf den experimentellen Film „Der Mann mit der Kamera“ von 1929. Schreibe, dass man die Pistole gesehen haben und wie lange man mit leicht zur Seite geneigtem Kopf vor Kunst stehen muss, damit man nicht als kompletter Vollidiot abgestempelt wird. Frage im Elektronikgeschäft nach „guter aber günstiger“ HiFi, finde Goethe grundsätzlich ganz toll aber Ginkgo-Bäumchen kaufen total spießig. Hör’ im Radio den originellen Sender deiner Stadt statt „Jump“. Kaufe Jugendproduktdesign aus Japan und finde „Hello Kitty“-Sachen nicht kitschig, sondern dem Geist deiner Zeit entsprechend. Definiere Individualität als das Gegenteil von dem, was die Masse treibt und finde Bands beschissen, die mehr als drei Leute außer dir noch kennen. Gehe zu Weinverkostungen und lass dich inspirieren vom Charme des Mediterranen, besuch’ Autorenkurse und Dichterzirkel, habe immer dein Notizbuch dabei. Achte darauf, welche Zeitschrift du mit in den Zug nimmst und dort liest.
Und schreib’ was die lesen wollen, verdammt.
Das ist für mich zwar jetzt erst einmal zu spät, denn der Abgabetermin für die Kurzgeschichte war gestern. Aber allein für diese Erkenntnis – sei sie noch so nüchtern – haben sich die kaffeedurchtränkten Nächte, die freiwillig verpassten Vorlesungen und die hingeschmissenen Tage am Rande der restlosen Selbstzerfleischung gelohnt.

Das ist jetzt zwar kein fröhliches Ende – aber es ist mein Happy End.


Anmerkung von Judas:

Den Text habe ich für einen Wettbewerb geschrieben. Thema war: "Wofür lohnt es sich die Vorlesung zu schwänzen?"

Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Verlo.

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Kommentare zu diesem Text

orsoy (56)
(15.07.09)
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 Judas meinte dazu am 19.07.09:
woah. Vielen vielen lieben Dank für solch einen Kommentar!

 Egozentrikerin (15.07.09)
Heyho....der Text ist der absolute Hammer, dadurch dass ich die Fratzen kenne die in deinen Vorlesungen so sitzen kann ich auch ziemlich viel nachempfinden und ich muss sagen du hast definitiv recht damit, dass die nur hören/sehen/lesen/denken wollen was andere auch hören/sehen/lesen/denken. Meiner Meinung nach hast du auch schon allein für die idee, dass du keine Stino Kurgeschichte geschrieben hast, einen Preis verdient.

 Judas antwortete darauf am 19.07.09:
Ich danke dir Liebes! :)
Luca85 (24)
(08.08.09)
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 Judas schrieb daraufhin am 09.08.09:
Wenn es dich etwas fröhlicher und unkotziger stimmt: Ich habe mich auch erst einen Tag vor Abgabetermin aufgerafft, den Text einzusenden. Ansonsten ist er ziemlich selbsterlebt... ;)
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