Der Schlafende Pablo

Text zum Thema Fiktion

von  max.sternbauer

Sie waren den Henkern der Kommunisten entkommen und jetzt warteten schon die der Faschisten vor der Tür auf sie. Was war bloß schief gelaufen? Dies ist eine Geschichte über den spanischen Bürgerkrieg.

Still war es geworden. Schatten huschten durch sie von Deckung zu Deckung. Schritte hallten durch die enge verwinkelte Gasse.
Einige Tauben saßen an den Rändern der Dächer und schauten herunter als würden sie einem Theaterstück zusehen.
Bald würde das Sterben wieder losgehen. Das war jedem klar. Nur wann  und wen es erwischen würde, das wusste niemand zu sagen.
Einschusslöcher waren in den Fassaden deutlich zu sehen. Das Haus lag am Ende einer steilen weißen Stiege. Die kleine Gasse wirkte wie eine enge Schlucht, wie eine Wunde, die zwischen den Häusern klaffte. Es war der einzige Zugang zu dem Gebäude und es gab kaum Möglichkeiten sich Schutz vor den Kugeln zu suchen. Reglose Körper, die auf den Stufen lagen, zeigten dies.
Das Haus war die perfekte Festung. Und die perfekte Falle. Es gab keinen anderen Weg hinaus als eben über diese Treppe und am anderen Ende kauerten die Soldaten Francos und zielten auf alles was sich bewegte.
Sie hockten in den Haustüren und schauten immer wieder zu dem Haus hinauf. Einer, der sich nach ganz vorne gewagt hatte, stöhnte unter der  madrilenischen Hitze. Zwei Stockwerke über ihm lagen zwei Gestalten unter den Fenstern in Deckung. "Bewegt er sich?"                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                      Ein Handspiegel wurde sacht gehoben. Die Mündung eines Gewehres wurde auf seiner Oberfläche sichtbar.
"Nein", sagte der Mann der den Spiegel gehoben hatte. Der Mann, der Schulter an Schulter mit ihm saß, berührte sanft das Rohr seines Gewehres, als wäre es eine zarte Pflanze. Sie schossen kaum noch. Nur wenn die Soldaten draußen angriffen, dann feuerten sie. Aber wenn einer seine Deckung verließ, vergeudeten sie keine Kugel mehr. Die da draußen hatten das noch nicht bemerkt. Seit einer halben Stunde belauerten sie sich. Keiner hatte einen richtigen Plan. Das konnte den Eingeschlossenen nur Recht sein, bedeutete das doch mehr Zeit. Aber Zeit wofür?
Einer der Männer lehnte am Rand  einer Badewanne und schaute aus dem Fenster. Einer der wenigen Fenster aus denen man noch heraus sehen konnte ohne eine Kugel zwischen die Augen zu kriegen.
Die ruhige Haltung von Juan war blanke Täuschung.
Der junge Mann war es gewohnt zu kämpfen, immer in Bewegung zu bleiben; angetrieben von Todesangst und Wut. Schon als Kind war er unablässig unterwegs gewesen, und sobald er alt genug war trieb es ihn als Wanderarbeiter von Stadt zu Stadt. Im Krieg hatte er stets ein Ziel vor Augen gehabt, auch wenn es nur ums Weiterleben ging.
Aber jetzt saßen sie in dieser Wohnung fest. Er fühlte sich eingesperrt und hilflos.
So ging es nicht nur Juan, sondern allen seinen Freunden. Jeder wusste von den Gefühlen des anderen. Nur sprach keiner darüber. Die Stimme des Radios war es, die ihnen erzählte wie die Geschichte über sie hinweg schwappte. Wie Hitler Österreich annektierte, wie Generalissimo Franco die Republik zerschlug und so vieles mehr.
Sie saßen hier fest und konnten nichts tun.
Dann hörten sie das Radio sagen, was sie nicht glauben wollten.
Die Republik war zerschlagen worden, Franco hatte gesiegt. Juan ging aus dem Bad in eines der Schlafzimmer. Dort lag der Grund wieso keiner von ihnen geflohen war.
Dort schlief Pablo. Pablo war ein Freund eines jeden, der hier in dem Haus gefangen war. Einige Wochen vor dem Einmarsch Francos in Madrid wollten sie alle gemeinsam fliehen. Doch da geschah das Unglück. Es war schon seltsam. Pablo, der dafür berüchtigt war, wie oft er schon angeschossen worden war, dass ihm keine  Patrone das Bewusstsein raubte, sondern ein Blumentopf der von einem überfüllten Balkon stürzte.
Genau Zwei Tage bevor ihre Reise nach Frankreich losgehen sollte.
Pablo lag im Koma. Er war sicher, dass er aufwachen würde, es wusste nur keiner wann.
Juan blieb in der Tür stehen. Pablos nackte Brust  hob und senkte sich sanft. Sein Kopf war dick einbandagiert.
Neben ihm ruhte ein zweiter Körper. Sonja lag so da als wäre sie überraschend eingeschlafen. Ihr Aussehen war recht seltsam.
Nicht seltsam, weil sie physisch nicht so beschaffen war, wie es der Zeitgeist als schön bezeichnete, sondern weil ihre Kleiderwahl nicht
passend schien. Sie trug ein leichtes Sommerkleid und bequeme Sandalen. Um ihre Hüfte schlang sich ein viel zu weiter Gürtel mit zwei Pistolen, die mehr zu wiegen schienen als die junge Frau.
Ihr Kleidervorrat war nämlich schlicht und einfach zur Neige gegangen 
So wie Juan war auch Sonja ohne Federlesens bei Pablo geblieben. Jeder der sich hier im Haus befand, hatte darauf verzichtet noch rechtzeitig aus Spanien zu verschwinden. Juan war Anarchist und ein wichtiger Mann unten in Barcelona. Sonja, Günther und der junge Camillo waren Trotzkisten.
Seit den Kommunistischen Säuberungen, versteckten sie sich hier in diesem Haus von einem Freund.
Piere Debray war eigentlich Franzose und arbeitete für die Zeitung der Kommunistischen Partei. Als aber die Säuberungen anfingen, waren seine Freunde zu ihm gekommen. Keiner würde sie bei ihm vermuten. Juan und Piere waren alte Freunde, doch brach oft Streit aus, weil sie auf unterschiedlichen Seiten kämpften. Das Gesicht von Juan verdüsterte sich, als seine Gedanken auf die Geschehen von damals zurückgingen. Viele seiner Freunde waren als Kollaborateure verhaftet worden. Alle Anschuldigungen waren nur Lügen gewesen, nur ein Vorwand um sie auszuschalten. Verräter sollten sie sein, obwohl sie alles für die Republik gegeben hatten. Ihre Freunde waren gestorben, sie hatten oft gehungert oder gefroren während Granaten versuchten sie in Stücke zu reißen. 
Und dann werden sie beschuldigt Verräter für die Faschisten zu sein.
Sie waren den Henkern der Kommunisten entkommen und jetzt warteten schon die der Faschisten vor der Tür auf sie. Was war bloß schief gelaufen?
Juan ließ Sonja noch weiter schlafen und ging ins Wohnzimmer. Er sah zwei Männer, die gegen ein Maschinengewehr lehnten. Weil das Fenster zu weit oben für die Lafette war, stand  das Geschütz auf einer  Plattform aus Büchern. Günther und Camillo waren beide Trotzkisten. Günther war Deutscher und geflohen als Hitler an die Macht kam. Er konnte nirgendwo mehr hin. Sie alle saßen in der Falle, nur bei Günther wog es schwerer.
Trotzdem war das Lächeln auf seinem Gesicht immer zu sehen. Das Gesicht eines Mannes um die vierzig auf dessen Nasenspitze eine Brille mit runden Gläsern balancierte; eingebettet in einem dichten struppigen Vollbart, in dem oft Essenreste hingen.
Auf der anderen Seite hockte der hagere Camillo. Seine Baskenmütze saß leicht schief auf seinem Kopf.
Er war erst sechzehn Jahre alt gewesen, als er seinen ersten Menschen tötete, damals in den Gräben bei Madrid. Juan war durch einen Zufall dahinter gekommen, dass Camillo beim Einrücken in die Republikanische Armee bei seinem Alter gelogen hatte. Aber er nahm ihn unter seine Fittiche. Für den Jungen fühlte er sich verantwortlich als wäre es sein kleiner Bruder.
"He mein Katalane", begrüßte ihn Günther, während er sich eine Zigarette drehte.
Juan kroch über den Fußboden zu ihnen. Camillo klopfte er auf die Schulter, der ihm ein müdes Lächeln zuwarf, so wie immer.
"Machst du gerade Pause. Ich mein ja ich kann in fünf Minuten wieder kommen", sagte er Günther und grinste. Ein perfekt gespieltes schlechtes Gewissen zauberte sich in Günthers Gesicht. Er zeigte gekränkt mit dem Daumen nach draußen.
"Die machen aber auch eine."
"Aber die kann ich nicht zusammenscheißen", antwortete ihm Juan im spitzen Tonfall.
Als sein Blick auf das Maschinengewehr fiel, sank seine gute Stimmung, die vielleicht doch nur eine Illusion gewesen war.
"Wie viel Munition haben wir noch?"
Günther tauschte einen Blick mit Camillo und nahm umständlich eine kleine Kette Patronen hinter seinem Rücken hervor.
"Damit kannst du nur noch ein Armband für deine Liebste machen"
Juan lehnte sich gegen die Mauer und schloss die Augen. Für einen kurzen Moment war er sehr müde. Ehe jemand genötigt wurde etwas zu sagen, hörten sie von draußen eine Stimme, die zu ihnen herauf brüllte.
"Nicht schießen."
Camillo hob noch mal den Spiegel. und sah wie ein Offizier mit erhobenen Händen aus seiner Deckung kam. Juan und Günther betrachteten ebenfalls das Bild.
"Was meinst du?" fragte Günther seinen Freund. Juan starrte auf den Spiegel. Seine Stirn war nachdenklich gerunzelt. Er schnappte sich sein Gewehr und wandte sich dem Fenster zu. Er wartete bis der Soldat die letzte Stufe der Treppe erreicht hatte, dann hob er seine Hand und brüllte
"Was willst du?!".
"Ich will verhandeln!"
Juan  lehnte sich gegen die Fensterbank und machte eine Geste, dass er weiter sprechen sollte.
Der Offizier sah zu ihm hoch. Zwei Gesten, die gar nicht zu einem Mann passen wollten, der das Töten erlernt hatte, wiesen auf die zwei Leichen die in der Sonne auf den Stufen lagen.
"Was wir hier machen ist sinnlos."
Der Soldat starrte in Juan grenzenlos verblüfftes Gesicht und machte eine beschwichtigende Geste.
"Warte hört mir zu, ich kann mir vorstellen was du jetzt denken musst. Nur zu gut sogar."
Er biss sich auf die Lippen, Juan konnte richtig spüren wie der Offizier mit sich kämpfte.
"Nur damit du mich richtig verstehst, du und deine Leute seid mir scheißegal. Es geht mir nur um meine Männer." Nachdem er das gesagt hatte, zückte er eine Uhr und hielt sie hoch. "In genau einer Stunde werden wir Verstärkung bekommen und dann bricht hier die Hölle los."
An der Stelle seufzte er tief. "Ihr könnt nicht fliehen und ihr habt keine Möglichkeiten das noch länger durch zuhalten. Also appelliere ich von Soldat zu Soldat an deine Vernunft, bitte, ergebt euch."
Juan starrte mit offenem Mund zu dem Mann herunter, der dies gesagt hatte. Obwohl er sich bewusst war wie albern das aussehen musste, vergingen noch einige Sekunden bis er antwortete.
"An meine Vernunft appellierst du", begann Juan leise.
Er deutete mit der Hand zu den Soldaten unter ihnen, die immer noch in ihren Verstecken kauerten.
"Was erwartet uns auf eurer Seite? Nur das Gefängnis, Folter und der Strick. Wir haben uns entschieden und dabei bleiben wir. Darauf wusste der Offizier keine Antwort. Einige Zeit starrte er noch zu Juan hoch, dann drehte er sich um.
"Diese halbe Stunde wird keiner meiner Leute auf euch feuern. Bringt euren Freund da in Sicherheit, der schon fast am Verdursten ist."
Der Soldat schaute wieder zu ihm hoch und tippte leicht gegen den Rand seiner Mütze. Juan lehnte sich zurück und atmete tief durch. Jetzt war der Moment da. Jetzt gab es kein zurück mehr. Juan ging ins Zimmer, wo Pablo lag. Als er das Zimmer betrat, stand schon Piere im Raum. Sein Freund sagte nichts zu ihm. Vor zwei Jahren war es zum Bruch zwischen  ihnen gekommen. In einem kleinen Dorf nahe der Front war ein Trupp der Faschisten von Juans Einheit aufgerieben worden. Die Überlebenden waren nicht zu eines der Lager gebracht worden, sondern in den Hinterhof einer alten Fabrik. Dort sollten sie erschossen werden. Piere hatte sich dagegen gewehrt. Er hatte nicht gewollt, dass so über die Männer gerichtet werden soll. Aber Juan wollte damals nichts hören. Seit diesem Tag war ein Graben zwischen ihnen aufgerissen worden. Nachdem sie so lange geschwiegen hatten, nickte er nur und ging wieder. Juan folgte ihm ins Wohnzimmer. Dort lagen sie alle Schutz suchend auf dem Boden und das einzige was sie hörten war das Ticken einer Uhr, die von jemandem  mitgebracht worden war. Alle starrten darauf. Der Zeiger drehte seine Runden. Bald sollte alles vorbei sein.
Aber es sollte anders kommen, denn ein Geist erschien in der Tür des Wohnzimmers. Zumindest dachten alle, dass der Mann der mit einem feinen weißen Pulver überzogen war, nur ein Geist sein konnte. Ein Schleier aus Mörtel rieselte von ihm herunter und schwebte langsam zu Boden. Alle starrten den Mann in weiß an und er starrte zurück, nicht minder überrascht. Dann richteten sie ihre Waffen auf ihn. Er fuchtelte wild mit den Armen als wolle er senkrecht in die Luft starten und schrie,
“He lasst den Scheiß Leute, ich bin es!”
Die Stimme sickerte langsam in Juans Gehirn. Ohne dass er es seinem Körper befehlen musste, sprang er vom Boden auf und umarmte den Fremden. Sie hielten sich lange in den Armen. Juan wollte seinen Freund so viel fragen, aber der klopfte ihm nur auf die Schulter.
"Hast du wirklich geglaubt, dass wir euch im Stich lassen?"
Dieser Mann – sein Name war Marco – umarmte seine Schwester Sonja stürmisch, indem er sie durch die Luft wirbelte. Beide lachten und weinten gleichzeitig. Marco schnäuzte sich laut in ein Taschentuch, das ihm von Günther gereicht wurde.
"Ihr fragt euch sicher wie zur Hölle ich ihr rein gekommen bin", nuschelte er durch den Stoff des Taschentuches. Die Blicke erwartungsvoll zu nennen wäre wohl die Untertreibung des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen. Marco winkte ihnen allen zu und führte sie unter die Erde.
Pierres Familie verfügte über einen gigantischen Keller. Kalkweiße Wände an denen dicke graue Spinnweben wie Baldachine die Holzregale überspannten, säumten ihren Weg. Sie gingen zwischen den Regalen  durch zum anderen Ende. Dort erwartete sie eine Überraschung. Ein
kleiner Hügel aus Schutt führte zu einem Manns großen Loch, das in der Wand gähnte. Davor stand eine kleine Gruppe von Menschen und schaute sie erwartungsvoll an. Aus dem Loch kam das Rauschen von Wasser und  ein übler warmer Geruch strömte in den Keller. Marco trat an die Mauer und klopfte mit der flachen Hand dagegen als würde er Teig formen.
"Gleich dahinter  liegt ein großer Kanal", begann Marco zu erzählen.
"Wir sind durch die Kanalisation gegangen, weil es auf den Straßen so sicher wie in einem Rudel Hyänen geworden ist. Wir haben einige Zeit gebraucht, bis wir die passende Stelle gefunden haben, dann mussten wir die Ärmel hochkrempeln und leider etwas brutal werden."
Marco ging zur Seite, weil noch mehr Leute durch das Loch in den Keller traten. Der Trupp von Marco führte zwei Tragen und Gewehre bei sich. Als der letzte durchs Loch gekommen war, erklärte Juan Marco die Lage.
"Wie viel Zeit?" fragte Marco. Juan sagte es ihm. Marco schnaufte, "Gut, dann nichts wie los."
Sie legten Pablo auf eine Trage und brachten ihn runter in den Keller. Alle befanden sich schon bei der Öffnung in der Mauer, bereit zum Aufbruch. Juan stand noch auf der Treppe und wartete auf Piere, der oben Wache hielt. Juan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, denn von unten hörte er das befreite Lachen seiner Freunde.
Aber dann hörte er von oben Piere laut "Scheiße!" brüllen.
Juan rannte sofort hoch und krachte mit Piere zusammen, der nach unten gestürmt  war.
"Der verdammte Major will mit dir sprechen" fluchte Piere als sie noch übereinander lagen. Juan schoss nach oben und schaute aus dem Fenster. Einen Moment dachte er so etwas wie Misstrauen im Gesicht des Offiziers zu sehen. Aber das war Einbildung. Der junge Mann hatte noch nicht lange zu dem Katalanen hinauf gesehen als er sagte: "Es wurde eine Amnestie erlassen. Wenn ihr euch jetzt ergebt garantiere ich euch eine milde Behandlung. Ich gebe euch eine Stunde mehr." Dann ging er wieder. Ja klar ich werde es mir überlegen, dachte Juan wütend. Er winkte den Soldaten  noch kurz zu. Dann ging er lässig durchs Wohnzimmer.  Sollen sie ruhig  noch etwas in der Sonne braten, wir sind dann schon weit weg. Als Juan aber das Stiegenhaus betrat, überfiel ihn eine bitterböse  Überlegung. Was ist, wenn sich die da draußen nicht an ihr Wort halten?
Sie würden ein leeres Haus stürmen und nur Minuten brauchen, bis sie das Loch im Keller finden würden. Ihr Vorsprung würde zu einem schlechten Witz zusammen schmelzen. Patrouillen würden ihnen den Weg abschneiden. Still kroch eine Erkenntnis heran, die Juan verzweifelt wegzuschieben versuchte.
Aber sie war einfach zu stark.
Sie saßen wieder in einer Falle. Nur diesmal hatten sie sogar ihre Freunde mit hineingezogen. Wie ein gebrochener Mann ging er in den Keller hinunter. Die Erleichterung erstarb abrupt wie eine Brise. Es war nicht zu lesen was auf ihren Gesichtern geschrieben war.
Juan stand in ihrer Mitte. "So sieht es aus", sagte er als er seine Gedanken mitgeteilt hatte.
Sonja trat aus der Reihe und legte ihre Hand auf seine Schulter.
Piere war der erste, der nach dem Katalanen Worte in die Stille warf.
"Wir haben nicht viel Zeit, also erspare ich uns die Rumrätselei und spreche nur aus, was uns allen klar ist. Wir können nicht alle gehen." Marco und Günther fuhren wie ein Mensch auf.
"Was soll der Blödsinn?" fauchte Marco wütend. Er war ganz nahe an den französischen Kommunisten getreten, als wollte er ihn mit dem Feuer in seinen Augen verbrennen. Piere blieb ganz ruhig und hielt Marcos Blick stand.
"Ja es ist Blödsinn, nur leider auch die Wahrheit. Was ist, wenn der verdammte Offizier uns wieder einen Besuch abstattet und merkt, dass keiner ihm antwortet? Die werden nicht lange brauchen bis sie merken, dass sie auf ein Geisterhaus starren."
Marco wollte etwas sagen, ihn sogar anschreien, nur konnte er es nicht.
Bevor der Streit, egal aus welcher Richtung weitergehen konnte, trat Juan entschieden zwischen sie.
"Schluss damit, ich bleibe. Wenn ich da oben einen richtigen Krach mache, sollte das schon ausreichen."
Günther schaute ihn an, als hätte er einen schlechten Witz gemacht.
Er wechselte noch einige Worte mit einem von Marcos Männern, der ihm eine Maschinenpistole und Magazine überließ und wandte sich der Treppe zu. Juan versperrte ihm den Weg, wobei er seinen Arm als Schranke benutzte.
"Du gehst", sagte er entschieden. Günther starrte ihn mit einem Grinsen von der Seite aus an, und hob seinen Arm langsam zur Seite. Dann stieg er die Treppe rauf. Juan schnaufte wütend und lud seine Waffe durch.
"Du gehst", sagte er noch einmal und alles in seiner Stimme machte klar, dass er es nicht wiederholen würde. Günther blieb auf einer Stufe stehen. Wortlos hob er die Maschinenpistole ins Licht des Stiegenhauses. "Leg dich nicht mit mir an Katalane." Dann verschwand er um die Ecke.
Juan war wütend, doch war jetzt war keine Zeit mehr darüber nachzudenken. Er würde es niemals zugeben, aber er war froh dass sein Freund da blieb. Bei den anderen aber würde er so was nicht empfinden.
Hinten sah er wie Camillo einige Magazine für sein Gewehr in seinen Rucksack steckte. Wütend riss Juan dem Jungen das Gewehr aus der Hand und schleuderte es in eine Ecke, wo ein Soldat hastig zur Seite sprang. Juan packte Camillo an der Schulter und hielt ihn eisern fest.
"Es ist mir egal was du denkst oder willst, du wirst dich in Sicherheit bringen. Ist das klar!"
Camillos Gesicht war erstarrt zu einer Maske des Zorns. Er wollte bei ihnen bleiben, ihnen helfen. Aber er wusste auch, dass es Juan niemals zulassen würde. Juan schleife Camillo zu Marco rüber. "Nehmt ihn mit." Marco nickte und schnappte sich Marcos Arm. Ohne ihn weiter  zu beachten, sah er zu Sonja hinüber. Sie stand schon die ganze Zeit über bei Pablos Trage und hielt mit ihrer linken Hand die seine umschlossen. Sonja und Pablo liebten sich schon so lange wie Juan sie beide kannte. In Sonjas Augen konnte er den Kampf lesen, der in ihrem Inneren gefochten wurde. Ich möchte nicht an deiner Stelle sein, dachte Juan. Beide umarmten sich. Wie lange, das wusste keiner im Keller hinterher zusagen. Es war auf jeden Fall keine Zeitspanne, die man mit einer Uhr messen konnte. Ging es nach ihren Gefühlen, war es eine Ewigkeit. So war es wohl die einzige Möglichkeit für einen Menschen sie zu erreichen.
"Richte ihm schöne Grüße aus, wenn er mal endlich aufwacht", sagte Juan. Sonja lächelte.
"Ich werde ihm alles erzählen was passiert ist", sagte sie. Dann trat sie mit Pablo durch das Loch.
Juan wünschte ihnen in Gedanken noch viel Glück. Piere war gerade dabei sich ein Gewehr zu schnappen. Juan schielte auf die zweite Trage, die unbenutzt auf dem Boden lag. Er flüsterte Marco etwas zu. Der schaute kurz verwirrt, nickte dann eifrig. Dann ging Juan zu Piere und tippte ihm auf die Schulter. Piere schulterte sein Gewehr und richtete seinen Anzug und die Krawatte. "Also ich bin bereit, wenn du es bist", sagte er an den Katalanen gewandt.
Der nickte auf das Gewehr.
"Was soll das?"
Piere protestierte schnaubend. "Lass den Scheiß Juan, ich werde euch helfen und Schluss."
Juan schüttelte langsam den Kopf. "Du hast schon zuviel für uns riskiert, du sollst dich nicht auch noch begraben lassen." Sein Kopf war über ein Jahr eine Zielscheibe gewesen und jetzt sollte auch er noch bei diesem Himmelfahrtskommando draufgehen?
Wenn einer gehen sollte, dann er. Aber Piere Debray dachte gar nicht daran. Sie stritten sich beide so lange, bis keine verständlichen Worte mehr aus ihren Mündern kamen, sondern nur noch wütende Laute.
Von hinten schlich sich Marco an und schlug nicht besonders hart aber wirkungsvoll den Gewehrkolben in Pieres Genick. Er brach stumm zusammen. Marco und Juan legten ihn auf eine Trage. Dann gaben sie sich stumm die Hände. Juan war alleine im Keller. Neben seinen Stiefeln stand eine Lampe, die einen Kegel aus verzaubertem gelbem Licht in die Dunkelheit schnitt. Mit einer Kiste Wein stapfte er aus der Dunkelheit, durch das nüchterne weiße Licht des Stiegenhauses. Ein guter Tropfen konnte ja nicht schaden. Günther war wieder auf seiner Position unter den Fenstern. Zwischen seinen Lippen war eine Zigarette eingeklemmt, die lässig aus seinem Mundwinkel heraus hing als hätte sie es sich gemütlich gemacht. Juan setzte sich und Günther reichte ihm seinen Beutel Tabak.
Juan nahm ihn mit der einen Hand und mit der anderen reichte er eine Flasche Wein. Günther musterte sie und nickte begeistert. Beide Männer rauchten und tranken und wirkten so als würden sie in Hängematten an einem Strand liegen und den Sonnenuntergang genießen. Günther presste die Lippen an die Mündung der Flasche und schaute auf seine Uhr. Das Ultimatum war abgelaufen. Juan blickte ebenfalls auf das Zifferblatt.
"Es wird wohl Zeit, dass wir auf ihr Angebot unsere Antwort zu kommen lassen", sagte Günther.
Juan hob seinen Finger, einen richtigen Leher-weist-Schüler-zurecht-Finger, und sagte: "Wir müssen aber mit der gebotenen Höflichkeit antworten." Aus dem Arbeitszimmer holten sie ein Grammophon und montierten den Trichter ab. Wie eine der Posaunen von Jericho wurde er aus dem Fenster gehalten.

"He ihr Faschistischen-Scheißkerle, das halten wir von eurer Amnestie!"

Sie schickten einen Hagel aus Kugeln die Gasse hinunter. Der Schall der Schüsse bellte verzerrt die Gasse hinauf und hinunter. Querschläger erzeugten Funken auf den Stufen und den Wänden. Aber sie trafen niemanden. Das wollten sie auch nicht. Nur, wenn Petrus so gnädig war, dass sie sich mal wieder ordentlich in die Hose kackten, das wollten sie. Kurz hielten sie inne. Als die ersten Köpfe vorsichtig in ihre Richtung spähten, ballerten sie weiter. Als ihre Magazine leer waren, schmissen sie sich auf den Boden. Denn kaum war ihre letzte Patrone verschossen, begann das Stakkato der Gewehre der Soldaten. Über ihnen flogen tödliche Geschosse. Günther und Juan robbten in den toten Winkel unter den Fenstern.
"Verdammt", sagte Juan und zeigte auf ihr Maschinengewehr "dass wir dafür keine Munition mehr haben."
Günther nickte grimmig.
Als eine kurze Pause eintrat, hörten sie vom Treppenhaus Schritte zu ihnen heraufkommen. Diese Schritte waren ein lautes und langsames Stapfen. Jede einzelne Stufe ächzte und knarrte als würde sie schwer belastet werden. Beide Männer huschten in eine Ecke von wo aus sie ein  besseres Schussfeld hatten. Dort legten sie ihre Gewehre an. Der Fremde betrat nun das Parkett des zweiten Stockes. Camillo tauchte in der Tür auf. Er trug eine schwere Munitionskiste. Beide Männer ließen die Gewehre sinken. Das einzige was sie hörten waren die viel zu schnellen Schläge  ihrer Herzen. Camillo ging an ihnen vorbei und holte Patronen für das MG aus der Kiste. Juan starrte ihn an.
"Du verschwindest, sofort!"
Camillo schwieg weiterhin, aber Günther ergriff das Wort.
"Lass es gut sein Juan. Keiner von uns will, dass der kleine Bastard hier ist, aber wir können es ihm wohl nicht ausreden." Der Katalane hob seinen Kopf und starrte dem Jungen direkt in sein Gesicht. Vor einiger Zeit noch, hätte Camillo diesem Blick nichts entgegen zu setzen gehabt, aber jetzt wich er keinen Zentimeter ab. "Ich bleibe hier." Juan wollte ihm etwas sagen, ihn sogar anschreien aber von draußen kamen wieder Schüsse. Günther hob den Spiegel. Sie sahen wie die Soldaten langsam
näher kamen. Günther fluchte  und setzte das Maschinengewehr an. Ein greller Schrei traf Camillo und Juan als ihr Freund zusammenbrach. Beide packten ihn und zerrten seinen Körper unter die Fenster. Eine Blutspur, dick wie Tinte, blieb zurück. Das Einschussloch war nicht leicht zu finden. Günther trug ein  Hemd und ein dunkles leichtes Jackett. Juans Finger glitten am Stoff vorbei, bis sie eine feuchte Stelle berührten. Als er wieder seine Hand hervor holte, tropfte Blut von seinen Fingerspitzen wie Regentropfen von einem Ast. Er riss sich sein Hemd vom Leib als wäre es glühend heiß und presste es als einen Ball zusammengeknüllt auf die Wunde.
"Camillo, hol' Verbandszeug!" brüllte er.
Er hielt seine Maschinenpistole aus dem Fenster und verschoss einige  Salven.
"Du kümmerst dich um ihn", sagte er. Günther lag neben ihm und hielt das Hemd fest an sich. "Das war ein Scharfschütze, der darauf gewartet hat, dass jemand ans Maschinengewehr geht." Seine Worte keuchte er aus dem Schmerz heraus und waren kaum verständlich. Juan nahm seine Hand und drückte fest zu. Günther erwiderte den Druck. Camillo kam mit einem grünlichen Kasten wieder zurück. In den nächsten Stunden dauerte der Angriff an. Camillo verband Günthers Wunde und brachte ihm ein Glas Wasser. Juan schaute die Gasse hinunter. Ihm viel etwas auf, das ihn beunruhigte. Es war immer noch die gleiche Zahl an Soldaten zu sehen. Von Verstärkung keine Spur. Das konnte nur bedeuten, dass sie einen anderen Weg suchten und sicher bald finden würden. Juan lehnte sich zurück und wischte sich den Schweiß weg, der auf seinem Gesicht klebte.
Camillo hielt Günther eine Flasche Schnaps hin. Günther trank nicht, sondern saugte ihn gierig ein, als würde sein Leben nur an einem Traum dünnen Faden hängen. Dann begann das Feuer wieder, das einige Zeit geschwiegen hatte. Geschosse flogen sinnlos umher als hätten sie oder ihre Schützen den Verstand verloren. Günther, Juan und Camillo hielten ihre Körper auf dem Fußboden.
Die Erschütterungen brachten ihre Nerven zum Beben. Es wurde Nacht. Die Laternen begannen Licht in die Gassen zu werfen. Befehle wurden gebrüllt. Aber es kümmerte Juan nicht mehr. Camillo hatte Günther so gut geholfen wie er konnte. Er lag vor ihnen auf dem Boden, die Schnapsflasche fest umklammert als wäre es eine Bibel. Für Camillo und Juan war sein Stöhnen nichts Neues. Schon so oft waren sie dabei gewesen, wenn Freunde ihr Leben auskeuchten. Nur bei Günther wussten sie nicht wie schwer die Verletzung war und diese Ungewissheit wog schwer.
"Tut mir leid, dass ich euch den ganzen Schnaps aussaufe", sagte Günther. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, aber sein Lächeln war so stark wie früher. Sein Gesicht schimmerte vom Schweiß. Juan lächelte ihn matt an und hielt ihm eine Weinflasche hin. Günther legte die Hände an seine Flanken und stemmte sich ächzend hoch. Als Camillo ihm helfen wollte, schüttelte er nur den Kopf. Er kroch über den Boden und stieß mit Juan an. Ein heller Klang schwebte durch die Finsternis des Zimmers.
"Es ist mir eine Ehre mit euch Schweinehunden zur Hölle zu fahren."
"Wohl gesprochen," Juan neigte seinen Kopf. Camillo schnappte sich die Schnapsflasche und machte einen tiefen Schluck. Er hustete und Günther lachte. Aber dann begann er zu würgen und spuckte Blut. Juan schaute ihn nicht an, doch in seinem Herz war ein tiefer dunkler Graben. Die Stille der Nacht ebbte ab und machte Platz für den Krach des Tages. Keiner von ihnen war auch nur für eine Sekunde eingenickt. Die Flaschen waren herumgereicht worden und irgendwann hatte Camillo begonnen auf seiner Mundharmonika zu spielen. Und wie er spielte!
Beide lauschten den Klängen als wäre es das erste Mal, das sie Musik hörten und so etwas wie Friede kroch in ihre Herzen. Plötzlich erschrak Juan. Etwas hatte seinen Arm fest umschlungen. Günther war zu ihm gerobbt.
"Lass uns mit einem Knall abtreten."
Juan schaute ihm stumm in seine Augen. Dann ging er in die Küche und holte den Brennspiritus. Sie füllten ihn in leere Flaschen und steckten Stofftücher in die Flaschenhälse. Günther packte sein Feuerzeug aus. Beide nickten sich zu. Hinter ihnen ertönte ein Klicken dann der helle Klang von etwas Metallischem, das auf den Boden fiel. Camillo hielt ein Magazin in seiner Hand und entlud es, Kugel für Kugel. "Wir dürfen das nicht tun."
Seine Stimme klang so entschlossen wie Juan sie noch nie zuvor gehört hatte. Er schaute dabei zu wie Camillo sich erhob, sein Gewehr nahm und es aus dem Fenster schmiss. Er hockte sich hin und wartete was die anderen sagen würden.
"Was sollen wir denn sonst tun, uns ergeben?" fragte Juan. Er wusste ganz genau worauf der Junge hinaus wollte, aber er konnte ihm nur mit Trotz antworten.
Camillo nickte.
"Das ist Schwachsinn", stieß Juan hervor.
Er wollte kämpfen. Er wollte sich nicht diesen Schweinen draußen ergeben. Nein, er würde sich nicht foltern lassen, eingesperrt wie man es nicht mal einem Tier antut. Es war vorbei, endgültig, und Juan hatte es akzeptiert. Aber wie konnte er es von Camillo erwarten? Er war noch so jung. Als er wieder aus seinen Gedanken hervor tauchte, sah er in Camillos Gesicht einen Ausdruck des Verstehens, so, als könnte er seine Gedanken wie ein Buch lesen. Das verwirrte Juan. Er kam sich vor wie ein Kind und auch so verletzlich. Unruhig ging er im Zimmer auf und ab und achtete nicht einmal mehr darauf, in Deckung zu bleiben. Camillo sprach mit seiner sanften Stimme.
"Wir müssen uns ergeben. Nicht wegen uns, aber wegen unserer Freunde. Ich kann dir nicht sagen wer ihre Kerker überleben wird, aber es werden welche überleben. Es hat nichts mit Tapferkeit zu tun, wenn wir uns jetzt tollkühn und mit wehenden Bannern in die Schlacht  stürzen. Ein anderer Kampf muss gekämpft werden, Juan. Wir brauchen keine Helden oder Heilige, wir brauchen uns."
Ratlos wandte sich Juan Günther zu. Er sagte nur "Camillo hat recht."
Juan blickte aus dem Fenster. Jahrelang hatten sie gegen eine Ideologie der Zerstörung gekämpft, dem Faschismus. Eine Schlacht war verloren, aber deswegen gleich die ganze Zukunft?
Vielleicht würde er doch alt werden. Dann könnte er den Menschen erzählen was hier wirklich geschehen war. Da draußen auf der Treppe waren nur ein paar Kinder, die jemand in Uniformen gesteckt hatte.
Einigen Familien würde er sie wegnehmen. Das war auch schon alles. Franco würde sich nicht an ihren Tod erinnern und  für das Militär waren sie nur Namen auf einer Liste. Juan ging in ein Schlafzimmer und nahm ein weißes Laken, das er an sein Bajonett band.

ENDE

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