Die Massen

Kurzgeschichte zum Thema Gesellschaftskritik

von  max.sternbauer

Er war ein Flüchtling. Lange war ihm schon alles egal. Was um ihn herum geschah war ihm egal, genauso wie die Bilder, die in seinem Kopf vorüber zogen, wie Tänzer die zu einer geheimnisvollen Melodie tanzten.

Ja er war angekommen, auch wenn er nicht mehr wusste, wieso er aufgebrochen war. Die Hoffnung, die früher in ihm gewohnt hatte, war weg. Sie hatte nicht einmal einen Zettel hinterlassen. Alles in ihm war leer. Keine Depression, nein, aber er hatte das Gefühl, dass ab hier nichts mehr weiterging. Hier war Endstation. Nicht der Tod oder das Gefängnis, keines von beiden. Es ging nur einfach nicht weiter. Er schaute auf die andere Seite, Stacheldraht, hoher Stacheldraht trennte ihn von dem Meer, das ihn ausgespien hatte. Auf einem kleinen Boot waren sie gekommen. „Das muss so klein sein, damit uns ihre Helikopter nicht finden.“ Hatte ihm der Schlepper erklärt. Dann waren sie aufgebrochen. Kaum Wasser und fast nichts zu essen. Aber sie waren aufgebrochen. Niemand hatte sie aufgehalten. Keiner war gekommen und hatte gesagt “Ja seid ihr den wahnsinnig, mit diesem ‚Ding’ wollt ihr da rüber!?“.
Nein, niemand hatte sie aufgehalten. Aber sie wurden dann doch gefunden. Laut war er, der Helikopter und alle hatten sie nach oben gesehen. Keiner hatte gewusst was er jetzt fühlen sollte. Ein Schiff holte sie und brachte sie an Land zu einem Lager.
“Seltsam,“ hatte er gegrübelt, “wenn sie uns aus dem Meer fischen können, warum haben sie uns nicht einfach gleich abgeholt, wir hätten uns soviel erspart.“ Er hatte Bilder im Fernsehen gesehen, die von einer andern Welt erzählt hatten. Er hatte nichts von den Ländern da drüben gewusst. Aber er wusste, dass sie verschmutztes Wasser getrunken hatten. Dort regierten nicht ein Haufen Verrückter, die korrupt waren und sich bekriegten, wegen nichts. Das einzige, das er sein eigen nannte, war eine Hoffnung, die keiner Rechtfertigung bedurfte. Und die hatte ihn getragen, den langen Weg. Getragen über die Mauern seines Waisenhauses. Getragen durch die schmutzigen Straßen voller Scheiße, Müll und kranken Menschen. Getragen zu dem Meer. Und dort hatte er im Sand gesessen und einfach rüber gesehen.
Aber jetzt, Tage nach den ganzen Strapazen, sah er in seinen Erinnerungen dieses kleine Kind, und fragte sich: Bin das ich? 
Ja das bist du.
Nein aber das kann nicht sein.
Wieso nicht, denkst du, du warst nie ein Kind?
Nein, aber er hier, der da am Strand sitzt, er hat soviel Hoffnung in sich. Ich weiß nicht mehr was das ist.
Das dachte er, als er durch den Stacheldraht das Meer ansah. Er zog seine Beine an den Körper und ließ sich die Brise über das Gesicht streifen, die vom tiefen orangen Sonnenuntergang herüber geschwebt kam.

Am nächsten Morgen standen sie in einer Schlange, die zu einem Schiff führte, das sie wieder in ihre Heimat bringen sollte. Sobald sie dort angekommen waren, würden es viele wieder versuchen. Einige waren letzte Nacht ausgebrochen und hatten sich im Umland versteckt. Aber auch sie würden wieder eingefangen werden. Hinter den Gebäuden, auf einem Parkplatz, wurden einige in Plastiksäcken abtransportiert. Die würden gar nichts mehr versuchen. Einige hatten auf dem Weg hier her eine Chance gehabt.
Aber was für eine Chance denn?
Ein anderes Schiff kam an und brachte neue Menschen. Die wieder bald nachhause geschickt wurden. Und so weiter, und so fort. Und er? Er stand an der Reling, hörte das Brummen der Motoren und schaute sich alles noch einmal an. Er sah die Prozession der Menschen. Die, die gerade gingen, und die, die gerade angekommen waren. Er schaute auf den Stacheldraht. Er sah noch wie jemand versuchte einen Jungen seines Alters zu reanimieren, und wie sie dann eine Decke über seinen Körper legten. Sie fuhren wieder zurück.

Tja, mehr gibt es nicht zu erzählen, aber auch nicht weniger.
Schlicht gesagt, gab es für „Menschen“ wie ihn keinen Platz hier.
Europa war ein Kontinent der einfach vergessen worden war. Den man im Stich gelassen hatte. Hier, hier im reichen Afrika wusste keiner von dem Elend in den Slums des Nordens. Höchstens Bilder sahen sie davon, aber die könnten auch von einem anderen Planeten stammen.
Man ignorierte die Millionen, die jedes Jahr die Küsten fluteten und sah einfach weg.
Es gab keinen Platz.
Nicht hier.


Anmerkung von max.sternbauer:

Dann waren sie aufgebrochen. Kaum Wasser und fast nichts zu essen. Aber sie waren aufgebrochen. Niemand hatte sie aufgehalten.

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