Der lange Weg

Parabel zum Thema Existenz

von  RainerMScholz

Gestohlene Menschenkraft hat diese Welt erbaut. Gestohlene, geraubte Menschen. Erniedrigte, gedemütigte, entmenschlichte Menschen bauten diese Welt mit ihrem Blut und ihrem Fleisch, Stein für Stein, Stufe um Stufe, immer höher und mächtiger, dem Himmel entgegen. Angetrieben von einer fremden Macht, die sie nicht verstehen konnten, nicht verstehen durften. Gepeinigt von dem inneren Trieb, hinauszuwollen. Weg von diesem Ort. Aus der Hölle. Sklavenmenschen. Sklavenhölle.

Viele starben. Sehr viele Menschen starben für den Bau dieser Welt, Stein um Stein. Alle starben. Sie starben mit der Gewissheit, für die Welt ihr Leben geopfert zu haben, freiwillig oder unfrei. Diese starben gezwungenermaßen.
Die Welt reicht weit hinaus in die Nacht, hoch in den Himmel. Beinahe berührt sie die Sterne. Doch nur eines ist sicher: Das Haus, das diese Welt ist, steht auf der Erde, und dort ist es gewachsen, aus Blut, Stein und Fleisch. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Das ist sicher. Nichts sonst.

Die ersten Stufen sind die schwersten. Schritt für Schritt taste ich mich an den kalten Mauern empor, jede Fuge zwischen den Quadern harten Granits ertastend, jede Kontur eines weiterer Steines. Unter meinen Händen wachsen Gesichter. Steingesichter, von der Ewigkeit dort in dem harten Stein zurückgelassen. Schreiende Gesichter, verzweifelte Gesichter, gequälte Fratzen, Masken. Die Steine weinen, und die Steine lachen, lachen mich aus, auf meinem Weg nach oben, zur Spitze des Turmes des Hauses der Welt.
Stufe um Stufe. Die Schritte werden schleppend, mühsam jede Bewegung nach vorne, das Anwinkeln des Knies zu einer Kreuzigung. Dann die Sohle meines Fußes, die die nächste Stufe ertastet. Jeder Muskel meines Körpers ist zum zerreißen gespannt. Die Härte des Fleisches ist unerträglich. Jeder Schritt rückwärts würde die Erlösung bedeuten. Und den Untergang.
Die Stufen winden sich in die Höhe, drehen sich um sich selbst, in einer in den Himmel führenden, scheinbar endlosen Spirale. Und es ist tiefschwarze Nacht. Kein Stern, kein Licht. Nichts. Nur die Drehung der Spirale in eine ungewisse Höhe, die schwindelerregend sein muss, könnte ich auf den Grund schauen, auf ihren Ausgang, den Anfang, den Beginn des Turmes des Hauses der Welt, sein Fundament. Ich bin schon zu weit. Zu hoch. So hoch, dass ein eisiger Wind mich umweht, der mich gefühllos werden lässt. Wie aus Eis ist mein Körper. Graniteis. Granit wie der Turm selbst. So kalt. Gut, dass ich nichts mehr zu fühlen vermag. Ich könnte erfrieren und merkte es nicht. Ich könnte die Ungeheuerlichkeit der Höhe des Turmes spüren. Ich muss bereits sehr weit oben sein. Sehr weit. Denn kaum wollen meine Füße den nächsten Schritt tun. Aber ich bin doch gefühllos. Also  werde ich weitergehen. Immer weiter. Ohne Unterlass.
Dort sehe ich ein Licht. Oder täuschen mich meine Augen? Bin ich erblindet vom Starren und Suchen in Dunkelheit? Ein blinkendes Licht, ein schimmernder Stern. Es muss ein Stern sein. Es muss der Himmel sein, der klare Himmel. Ich weine. Tränen rinnen aus meinen Augen über mein Gesicht. Ein nichtssagender Reflex. Vielleicht der Wind. Ich laufe. Ich haste die letzten Stufen zur Spitze des Turmes empor, meines Turmes, zur Spitze des Turmes des Hauses der Welt, die auf Knochen gebaut ist, aus Blut und vergeblichem Leben.

Da ist das Licht.

Dann stehe ich auf der Spitze des Turmes, dort, wo es nicht weiter geht, wo ich so nahe am Himmel bin, dass es näher nicht möglich scheint. Ich schreie dem Himmel entgegen, den Sternen und den Engeln - ich bin da, ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft.
Da steht jemand am Rande der Turmesspitze und schaut über die Brüstung in die Tiefe.
Wer bist du? Was willst du hier, hier auf meinem Turm. Es ist eine einsame Gestalt, verloren und alleine hier im gleißenden Dunkel. Es kann nicht höher gehen. Niemand kann das. Wer bist du?
Ich rufe ihn an. Langsam dreht er seinen Kopf zu mir, sieht mich aus traurigen Augen an und lächelt. Ein wissendes, grauenerregendes Lächeln, denn: Ich bin es. Ich bin die Gestalt, die schon an der Spitze des Turmes steht und hinunter sieht. Ich bin der, der wehmütig hinunter sieht und weiß, dass er bleiben wird, hier bleiben muss, für immer. Der nie mehr zurück kann. Der immer allein sein wird, unter den Sternen des Himmels unerreichbar. Und war doch schon da.
Ich senke meinen Blick, wende mich ab und gehe zurück. Abwärts Stufe um Stufe. Der Ungeheuerlichkeit dessen, was ich sah, stets gewiss, bei jedem Schritt tiefer, Stufe um Stufe. Mir der unabwendbaren Tatsache bewusst, dass man nicht hinter sich selbst zurückfallen kann, lasse ich los und stürze in den Abgrund, die Tiefe, welche die höchste Höhe ist.                                           



© Rainer M. Scholz

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