Als Herr Mendelsohn aufhörte zu existieren

Erzählung zum Thema Faschismus

von  max.sternbauer

Es ist schon merkwürdig, mit unseren Erinnerungen. Oft vermischen wir sie so wie Farben, sodass uns ein Geschehen ganz anders vorkommt als noch vor zehn Jahren. Im Kopf sind keine Mauern, die alles säuberlich getrennt halten. So entstehen Missverständnisse, weil zwei Menschen verschiedene Bilder von demselben Passierten im Kopf haben. Oft, leider zu oft, verschwinden unsere Erinnerungen an einen Ort, den zu kennen manchmal ganz praktisch wäre. Zurück bleibt ein Gefühl, als wäre jemand bei dir gewesen, den du schon lange nicht mehr gesehen hast.

Oh Gott, hoffentlich liest das meine Frau niemals. Sie meint schon seit Jahren, dass meine rührselige Ader stillgelegt gehört. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, für wen ich das eigendlich schreibe. Es war wohl der Hunger, einfach was zu Papier zu bringen. Es ist so, dass eine ganz besondere Erinnerung in meinem Kopf mir den Wunsch gibt, ihn mitzuteilen. Und da fand ich diesen essayhaften Einstieg mit der Natur des Erinnerns als einen guten Anfang. Bis zu diesem Satz habe ich einen halben Sonntag gebraucht, denn ich war nie ein Schriftsteller. Wenn ich mich erinnere, sehe ich in meinem Kopf alte Fotografien, die schon vergilbt sind und Risse haben.

Ich bin 96 Jahre alt. Ich habe eine Erinnerung, an die ich jetzt fast fünfzig Jahre lang nicht gedacht habe, obwohl sie meine einzigartigste ist. Es ist das Bild eines Mannes, der Karl Marx verdammt ähnlich sieht. Er trägt einen alten Gehrock, wie es am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Mode war. Als ich diesen Mann sah, lebten wir schon in den Dreißigerjahren. Dieser Mann hatte einen kleinen Gemischtwarenladen in dem Viertel, wo ich lebte. Sein Name war Herr Mendelsohn und er war Jude. Viel hatte ich mit ihm nicht zu tun und etwas wissen über ihn, das tat ich noch weniger.

Als sich unsere Wege kreuzten, war ich erst neun. Mein Vater war Elektriker, bis er sich nach dem Krieg umschulen ließ, zu einem Versicherungsvertreter. Meine Mutter war eine wunderbare Person und mein kleiner Bruder war, naja, eben eine Nervensäge. Das waren die interessantesten Sachen, die ich über meine Familie sagen konnte.

Herr Mendelsohn trug immer seinen Gehrock, der so aussah, als wäre er auf der Straße mal falsch abgebogen und in einer anderen Zeit gelandet. Er war ein richtiger Eremit, nur hockte er nicht auf einen Berg, sondern lebte in der Stadt. Sein Geschäft ging richtig gut, aber er dachte nicht daran, den Laden seines Vaters zu vergrößern. Das war wohl auch der Grund, wieso alle bei ihm einkauften, weil er schon so lange hier war. Er ging immer in das Lokal, wo mein Vater und seine Freunde sich zum Kartenspielen trafen. Dort saß er meistens alleine, trank sein Pils und rauchte seine Pfeife oder spielte Schach. Es gab niemanden, der ein schlechtes Wort über ihn sagte. Aber da war auch schon die Grenze. Näher kannte ihn keiner von seinen Nachbarn. Es lag aber nicht an seiner Herkunft. Ich sage bewusst nicht Glauben, weil Herr Mendelsohn ihn fast gar nicht praktizierte.

Überhaupt konnte man im Alltag richtig vergessen, dass er Jude war. Er hielt sich nicht an jüdische Traditionen wie den Sabbat. Aber er hatte nicht vergessen woher seine Wurzeln waren. An der Tür seines Hauses war noch immer die Mesusa seines Vaters angebracht und in seinem Laden hingen noch alte Fotografien aus seinem Heimatdorf in Galizien.

Jetzt komme ich zu dem Moment, wo ich diese Erinnerung archivierte. Es ist seltsam, aber ich kann mich noch daran erinnern, wie kühl die Luft an dem Abend war, wie sich der Himmel am ganzen Horizont purpur verfärbte und was am wichtigsten ist, wie die Limonade schmeckte. (Naja, als Kind finden Sie sowas wichtig). An dem Abend fand eine politische Kundgebung der Nationalsozialisten in dem Gasthaus in unserer Nachbarschaft statt. Ich saß auf dem Rand des Gehsteiges. Hinter mir konnte ich das Geschrei hören. Es klang wütend und alle pusteten ihre Wut gleichzeitig in die Luft hinaus. Auf einem Holzschild war ein Plakat der NSDAP geklebt.

Irgendsoein Partei-Wasweißichwas hielt eine Rede über die Schande von Versailles und dass unser Führer Adolf Hitler Deutschland wieder stark machen würde. Der übliche Mist halt. Rückblickend finde ich es witzig, wen sie uns da geschickt hatten. Ein junger Mann, dem man es ansah, wie er vor dem Spiegel stand und gegen seine Pickel kämpfte. Mein Vater war Veteran im Ersten Weltkrieg, wie die meisten Männer in seinem Alter. Und vor ihnen steht ein Rotzlöffel und erzählt ihnen, wer Schuld war an der Niederlage. Aber er musste sich nicht groß anstrengen. Ich weiß  nicht, ob sie ihm richtig zugehört haben, aber kaum waren ein paar Stichworte gefallen, da ging es auch schon los. „Wir haben den Krieg nur knapp verloren“, schrie einer. Dann brüllte ein zweiter: „Wir sind verraten worden, nur so konnten wir Sklaven der verdammten Franzosen werden!“

Wie Stimmen in einem Chor stieg jeder akustisch passend dazu ein. Was der Redner an Rhetorik nicht zusammenbrachte, schaffte er jetzt dadurch wettzumachen, dass er das Gebrüll als Chorleiter steuerte. Ich glaube, er hätte seine Rede gar nicht erst mitnehmen müssen. Diese Menschen waren frustriert wütend und manche auch verzweifelt, und das schon über Jahre. Wer dabei gewesen war, sich mitten in diesen Strudel aus Krach und Emotionen stellte, der könnte so manches verstehen, was geschehen ist.

Dann kam, was kommen musste. Ich war hinein gegangen. In meiner Hand pendelte eine leere Flasche. Weil ich wusste wie abgefüllt hier alle waren, wollte ich meinem Vater noch eine Limonade abluchsen. An seinem Tisch saß auch mein Onkel. Ihre Augen als Pegelstand verrieten mir, dass das ordentliche Mengen an Hellem ihre Kehlen befeuchtet hatten. Beide schauten zu der Tribüne und ihre Augen schimmerten merkwürdig.

Der junge Mann schaute herum als suche er etwas in der Menge. Dann brüllte er:
„Wer ist unser Feind?“ Die Zeit blieb stehen. Nein, eigentlich verlangsamte sie sich. Überall erhoben sich Körper, Fäuste schossen in die Luft. „Die Juden!“, brüllten alle und es klang wie aus einer einzigen riesigen Stimme. Alle waren aufgesprungen und ich wurde zwischen den Menschen zerquetscht. Ein Applaus erhob sich, der Klang wie eine tosende Brandung. Ich schlängelte mich zwischen Hurra-Rufen,  klatschenden Händen und kämpferisch verzogenen Mienen zum Klo durch. Eine Gestalt blieb ruhig sitzen, deswegen sah ich sie auch in der Masse aus zuckenden Körpern. Herr Mendelsohn saß ganz alleine auf einem Tisch. Die Glut seiner Pfeife war schon lange erloschen. Niemandem von uns war aufgefallen, dass er hier war. Niemand hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, wie es ihn dabei gehen musste. Wahrscheinlich war es auch nie eine Frage gewesen.

Aber wieso war er hier? Wollte er sich wirklich diesen Schwachsinn anhören, obwohl jeder auf der Straße genug davon hörte, dass es aus den Ohren tropfte. Herr Mendelsohns Gesicht war das rätselhafteste, das ich je sehen sollte. Es lag nicht an dem Ort, wo ich mich befand, das Licht war nicht düster und nichts versperrte mir die Sicht. Er saß ruhig da, die Haltung wirkte nicht angespannt, als würde er eine tiefe Wut unterdrücken. Seine Augen, seine Augen wo sahen die hin? Ich weiß es nicht.

Neben ihm, auf dem Nachbartisch, saßen einige jüngere Männer. An jenem Abend hatten sie sich leidenschaftlich über den zukünftigen Krieg unterhalten. Drei hörten einem zu, der hitzig sprach und beinahe mit seinem Arm ein Bierglas umwarf, was einer seiner Freunde verhinderte, ohne dass er es mitbekam. „Kein einziger Jude war an der Front. Die saßen in Sicherheit und haben ihre Brut freigekauft, mit ihrem vielen Geld.“ Alle schlugen anerkennend mit den Fäusten auf den Tisch. Die leeren Gläser klirrten hell. „Außerdem müssen wir uns von dem ganzen roten Gesindel befreien, nur dann werden wir auch frei sein.“ Seine Freunde johlten auf und klopften ihm auf die Schulter, während einer von ihnen nach der Kellnerin winkte. Sie kam mit einer Schnapsflasche und vier Gläsern. „Fünf bitte.“ Die Kellnerin stieß einen spitzen Schrei aus und sogar die Männer zuckten zusammen.

Herr Mendelsohn war plötzlich aufgestanden. Jeder von ihnen hatte sich so erschreckt, als wäre er plötzlich vor ihnen durch die Wand gekommen.
Schon seit Stunden war er hier und niemand schien ihn bemerkt zu haben.
Er holte sein Portemonnaie hervor. „Diese Runde geht auf mich, wenn die Herren nichts dagegen haben.“ Einer der Männer schüttelte sich wie ein nasser Hund. Er grinste breit. „Ein Mann, der trinkt, ist immer willkommen.“ Herr Mendelsohn setzte sich und zündete seine Pfeife an. Die Flasche leerte sich, wie das Lokal. Mein Vater packte mich am Arm und zerrte mich heim.

Als mein Vater und meine Mutter um die Wette schnarchten, rannte ich zum Gasthaus zurück. Ich schlich mich unter eines der Fenster und lauschte. Leise waren sie aber nicht. Sie waren alle ziemlich besoffen. Plötzlich hörte ich die ruhige Stimme von Herren Mendelsohn: „Sie haben doch vorhin über den Krieg gesprochen.“ Jemand antwortete: „Genau.“ „Es ist eine Schande, was uns widerfahren ist. Aber die Rache wird bald kommen.“ Zustimmendes Gemurmel war zu hören. Ich spähte über die Fensterbank. Herrn Mendelsohn entwich eine  Rauchwolke aus dem Mundwinkel. „Ja, der Krieg war ein Verbrechen“, murmelte er.
Ein heftiger Schlag erschütterte den Tisch. Einer der Betrunkenen reichte seine Hand über den Tisch. „Wahre Worte mein Freund.“ Sie gaben ihm alle Recht, als würde Mendelsohn ihnen zustimmen. Dann sagte er: „Mein Vater ist 1871 bei Sedan gefallen, als ich noch ein Säugling war. Mein Sohn verlor 1917 bei Verdun sein Leben.“ Alle schwiegen. Dann erhob sich einer nahm sein Glas und sagte feierlich: „Lasst uns auf diese Helden trinken, die ihr Leben für Volk und Vaterland gelassen haben.“

Ich sah, wie sie alle aufstanden und Herrn Mendelsohn anblickten, als wäre er ein Held. Einer räusperte sich mit ehrerbietendem Ton und fragte: „Mein Herr, wenn wir auf das Andenken Ihres Vaters und Ihres Sohnes trinken sollen, können sie uns vielleicht ihre Namen nennen.“ Ganz langsam klopfte er seine Pfeife aus, stand auf und zog seine Uhr aus dem Mantel. Während er sie aufzog, erklang verwirrtes Gemurmel. Herr Mendelsohn steckte seine Uhr wieder ein und sagte: „Mein Vater hieß Samuel, mein Sohn trug den Namen Joshua und ich heiße Isaak Mendelsohn. Ich wünsche den Herren noch eine angenehme Nacht.“ Dann ging er. Ich auch.

Mein Vater verhaute mich, wie er es nie wieder tun sollte. Eine Woche später verreiste Herr Mendelsohn für ein Jahr nach Palästina. Angeblich lebte dort ein Bruder von ihm. Währenddessen wurde das Leben für diejenigen, die dem Regime nicht passten immer schlimmer. Ich fragte mich, ob wir unseren Händler je wieder sehen würden. Aber er kehrte wirklich zurück und führte sein Geschäft weiter. Ein letztes Mal sah ich ihn, als er auf der Straße spazierte. Er pfiff in Gedanken versunken vor sich hin und bemerkte mich nicht. Als er kurz davor war, um eine Ecke zu verschwinden, hüpfte er kurz auf und lachte. Tags darauf ging ich in seinen Laden, um Mehl zu kaufen. Nur gab es kein Mehl mehr. Es gab auch keine anderen Waren mehr - oder ein Geschäft. Es gab auch keinen Herren Mendelsohn mehr, der hinter seiner uralten Kassa stand. Durch das Schaufenster sah ich nur eine leere Höhle, die so wirkte, als wäre sie vor Monaten geräumt worden. Nur der wuchtige gewaltige Tresen war noch da.

Als hätte mich ein Sturm erfasst, rannte ich nach Hause. Aber meine Eltern taten, womit ich niemals gerechnet hätte. Sie schwiegen einfach. Jeder tat das. So, als wäre es schon immer so gewesen, kauften wir jetzt drei Straßen weiter. Im Gasthaus wurde weiter kartengespielt, Bier getrunken, während das Radio lief. Auf Mendelsohns Platz saß jemand, den ich noch nie gesehen hatte. Dann fragte ich meine Mutter in der Küche genervt, sos wie es Kinder nun einmal machten: „Was ist denn jetzt mit Herrn Mendelsohn?“ Blitzschnell drehte sie sich um und starrte mich  mit einem Blick an, der in mich hinein fuhr und dort alles gefror. Dann schrie sie: „Es gab niemals einen solchen Mann, verstanden!“ Sie kreischte es richtig, dass es mir in den Ohren wehtat. Verängstigt rannte ich nach oben und verkroch mich unter meiner Decke. Leise hörte ich Schritte und mein Herz schlug bis zum Hals. Aber meine Mutter nahm mich nur in den Arm.

Es tat ihr leid, das spürte ich neben den Tränen die mir auf die Stirn tropften.
Meine Mutter bat mich nicht mit Worten, aber ich spürte, dass ich sie nie wieder fragen sollte. Und das tat ich. Meine Frage war das letzte Mal, also wo ich dabei war, dass Herr Mendelsohns Name erwähnt wurde. Alle machten es so, wie es meine Mutter erbeten hatte; es hat ihn nie gegeben. Aber da war noch sein Haus mit dem leeren Geschäft. Es wurde nicht verkauft. Es war unheimlich, niemand zog ein. Selbst, als die Bomben kamen und viele Menschen obdachlos wurden.

Als schließlich unsere Stadt an der Reihe war, passierte etwas Unheimliches. Einige Flieger warfen ihre Bomben über der Altstadt ab. Die meisten trafen den Stadtpark und die dazu gehörenden Auen am Kanal. Aber einige erwischten das Rathaus oder - besser gesagt - ein abgesondert daran montiertes Gebäude; das Archiv. Sämtliche Akten die man sich vorstellen kann, sei es eine Geburtsurkunde oder eine Stiftung, der Kaufvertrag eines Grundstückes oder die historische Handschrift, worauf das Stadtrecht dokumentiert ist, alles wurde hier aufbewahrt. Höchstwahrscheinlich gingen auch ein paar Akten mit Mendelsohns Namen in den Flammen auf.

Nach dem Krieg hatte das Britische Besatzungskommando seine liebe Not mit dieser bürokratischen Katastrophe, wie die braune Verwaltung davor. Jede Aufzeichnung über Mendelsohn ist verschwunden. Als Student arbeitete ich viele Sommer im wiederaufgebauten Archiv. Ich fand kein Schriftstück das seinen Namen trug. Den Mann, bei dem ich und mein Bruder uns heimlich einmal Zigaretten gekauft hatten, bei dem noch Frauen noch auf Kredit einkaufen konnten, als ihre Männer während der Depression ihre Arbeit verloren hatten, den haben alle vergessen. Jetzt, da ich ein alter Mann bin, der das Glück hat, dass bei ihm noch alle Glühbirnen brennen, wüsste ich nur eine Sache gern. Wo ist Mendelsohns Grab? Damit ich weiß, was ihm geschehen ist.


Anmerkung von max.sternbauer:

Ich habe eine Erinnerung, an die ich fünfzig Jahre lang nicht mehr gedacht habe, obwohl sie meine einzigartigste ist. Und die will ich erzählen.

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Kommentare zu diesem Text


 franky (30.12.09)
Hallo Max,
Deine Erinnerung ist ein kostbares Juwel für die, die sich noch an den zweiten Weltkrieg erinnern können.
Als ich noch sehn konnte, habe ich beobachten können, wie kolonnen von Frauen und Männern auf der Straße nach Mauthausen getrieben worden sind, wie Tiere zum Schlachthof. Gott sei Dank dauerte dann der Krieg nicht mehr so lange, könnte sein dass der eine oder andere mit dem Leben davongekommen ist.
Dein Text macht sehr betroffen.

Herzliche Grüsse

von

Franky
(Kommentar korrigiert am 31.12.2009)

 max.sternbauer meinte dazu am 31.12.09:
Hallo.
Ich muss leider da etwas klären:
Der Text ist komplett fiktiv. Es muss wohl ein Missverständniss bei der Zuordnung meiner Arbeit gegben haben.
Es tut mir wirklich leid.
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