Der kleine Muck

Erzählung zum Thema Verarbeitung/ Verdrängung

von  Mutter

Reflexartig drücke ich auf den Summer, als es klingelt - gehe in die Küche, um nach dem Kaffeewasser zu schauen. Ich brauche die Gegensprechanlage nicht, um zu checken, wer es ist. Julia ruft vorher an, die schlägt nicht einfach auf.
Kann nur einer der Jungs sein. Juri oder Gabi, wahrscheinlich Letzterer. Kommt häufig abends bei mir vorbei, kurz vorm Ausschwärmen. Um nach mir sehen, sagt er immer. Und um zu schauen, ob ich nicht mitschwärme.
Mache ich meistens nicht. Die Trips mit Gabi sind für mich wie eine Kneipen-Tour eines trockenen Alkoholikers. Aufregend, unglaublich befriedigend aber ultimativ zerstörerisch. Erinnern mich daran, wie es früher war. Und lassen mich danach mit einem schlimmeren Turkey zurück, als ihn jede Crackhure je verspürt hat.
Ich weiß es besser, als mit ihm eine brennende Spur durch den Nachthimmel zu ziehen – und manchmal kann ich es trotzdem nicht lassen. Meistens dann, wenn Julia nicht in der Nähe ist, um auf mich aufzupassen.

Es ist Mick-Muck-Motherfuck. Er schlüpft durch die angelehnte Tür, zieht sich die Schuhe aus. Mick zieht sich immer die Schuhe aus, egal, wie oft ich ihm sage, er soll sie anbehalten. Bei mir ist der Boden weder warm noch sauber genug, um auf Socken herum zu laufen. Besonders nicht auf solchen.
Mit einem vielsagenden Blick sehe ich auf seine zerlöcherten Wollsocken und ziehe mich mit dem Filter voller Kaffeepulver in die Küche zurück. ‚Lass sie an!‘, rufe ich nach hinten in den Flur. Obwohl ich weiß, dass es nichts nützt, dafür ist der Kerl zu stur. Er folgt mir.
Steht unbeholfen im Türrahmen, sieht mir zu.
‚Kaffee?‘, will ich wissen. Er zögert, nickt.
Ich versuche zu erraten, was ihn herführt. Smalltalk und Abhängen sicher nicht. Mucking about ist eine irische Redewendung, die soviel heißt wie Zeit verschwenden, unnütze Dinge tun, hatte mir ein Oldtimer in einem Pub in der Dubliner Innenstadt mal erklärt. Ich mag den Ausdruck – nur passte er überhaupt nicht auf Mick. Mick hatte niemals Zeit, um sie für irgendwas zu verschwenden. Fast nie.
‚Liegt irgendwas an?‘, will ich wissen, klinge abgeklärt. Dabei rumort es in meinem Inneren – Mick wäre nie hier, wenn es nicht was Dringendes gäbe. ‚Steckst du in Schwierigkeiten?‘
Meine Zeit mit Gabi färbte ab – ich hatte ebenfalls begonnen, in Mick den kleinen Bruder mit Rotznase zu sehen, der andauernd in Schwierigkeiten steckt. Und den man bei aufregenden Abenteuern besser zu Hause lässt, egal, was die Mutter will.
‚Julia macht sich Sorgen um dich‘, lässt er endlich die Katze aus dem Sack. Ich verbrühe mich fast an dem kochenden Wasser. Lecke mir mit einem leisen Fluch den Handrücken, wo mich die feinen Spritzer erwischt haben.
‚Alles in Ordnung?‘, will er besorgt wissen. Ich wehre den Schritt, den er in meine Richtung macht, mit der erhobenen Linken ab. Die Rechte steckt mir noch im Mund.
‚Schon okay‘, murmele ich endlich und sehe zu, wie das braune Wasser langsam durch Pulver und Filter nach unten sickert.
Er wartet darauf, dass ich etwas entgegne, mich aufrege.
‚Sie meinte, du hättest dich wieder so zurückgezogen. Redest nicht mit ihr.‘
Unnachgiebig starre ich weiter auf den Kaffee, merke, wie mein Unterkiefer sich verspannt. ‚Und du kommst jetzt, redest mir kurz ins Gewissen, legst die Hand auf und alles ist gut?‘
Mein Blick bohrt sich in seinen, er schaut zu Boden. ‚Heile-heile Segen? Alles neu macht der Mai, alle schick macht der Mick? Ist es so?‘
Stumm schüttelt er den Kopf, betrachtet weiter meinen Küchenboden.
Tröpfelnd meldet der Kaffeefilter Vollzug. Ich stelle ihn ins Waschbecken, verteile die kostbare Flüssigkeit auf zwei Becher und gehe auf Mick zu. Er zögert einen Moment, macht mir Platz und folgt mir durch den Flur ins Wohnzimmer.
‚Milch und Zucker‘, sage ich und deute auf den Tisch, setze mich. Er nickt, gießt sich H-Milch in den Kaffee und lässt sich langsam auf den Stuhl mir gegenüber gleiten.
Ich nippe von dem bitteren Getränk, verbrenne mir leicht die Zungenspitze. Während mir der wohlige Geruch aus der Tasse um die Nase steigt, mustere ich Mick. Ich glaube, den Geruch von Kaffee mag ich fast lieber als seinen Geschmack. Vielleicht sollte ich umsatteln – statt Kaffeetrinker werde ich Kaffeeriecher.
‚Hast du auch gedacht, dass es eine gute Idee ist, dich von Julia zu ihrem Kurier machen zu lassen?‘ Ich muss an die Geschichte vom kleinen Muck denken, und daran, was mit ihm passiert. ‚Du weißt, dass das in dem Märchen schief gegangen ist, oder?‘
‚Was?‘ Er hält im Pusten und Trinken inne, die Tasse halb erhoben. Hat keine Ahnung, wovon ich rede.
‚Egal. Hör zu, Mick, du tust dir und Julia keinen Gefallen, wenn du dich auf solche Spielchen einlässt. Und mir auch nicht!‘
‚Jakob, ich weiß …‘
‚Mick, du hast keine Ahnung. Weißt nicht, was damals gelaufen ist, tappst im Dunkeln. Halt dich da einfach raus, okay? Das ist was, das geht nur mich etwas an.‘
‚Und Julia!‘, wagt er schmollend einzuwerfen, aber er hat verstanden. Nickt langsam, trinkt von seinem Kaffee.
‚Es tut mir leid‘, bietet er endlich an, betrachtet mich.
‚Schon gut. Ich verstehe ja, dass sie sich Sorgen macht. Auch wenn sie das nicht müsste.‘
‚Behauptest DU!‘, wird er sofort aufmüpfig.
‚Hey, vorsichtig, ja?‘ Ich drohe ihm mit erhobenen Augenbrauen – tue so, als meine ich es nicht ernst.
Statt zu antworten grinst er. Ich muss ebenfalls lächeln, aber ich denke darüber nach, was ich zu ihm gesagt habe. Wenn er der in Ungnade gefallene Zwerg ist – bin ich dann der ungerechte Sultan? Während ich den letzten Schluck von meinem Kaffee nehme, verziehe ich das Gesicht. Auf die Eselsohren würde ich gerne verzichten – vielleicht ist das Gleichnis vom kleinen Mick doch nicht so passend.
‚Ich muss los‘, verkündet er, stellt seinen Becher auf den Tisch. ‚Man sieht sich?‘, fügt er lahm hinzu.
Ich nicke gleichmütig. ‚Schätze schon. Bist du am Donnerstag bei der Lomographie?‘
Mick schüttelt den Kopf, kommt um den Tisch rum. Eigentlich hätte ich nicht fragen müssen – seit Gabi da seinen Fuß in die Tür bekommen hat und zum Komitee gehört, war Mick nie wieder dort gewesen.
Er zieht sich umständlich die Schuhe wieder an, hinterlässt feuchte Spuren auf dem Boden.
‚Okay, dann auf bald‘, verabschiede ich ihn, bevor ich die Tür langsam zudrücke und ihn im Treppenhaus aussperre.
Wie in einem Arthouse-Film bleibe ich einen Momentan der Tür lehnen, schließe die Augen. Ungebetene Bilder tauchen vor meinen Augen auf, flirren hinter meinen Lidern entlang.
Ich sehe den Bahnsteig, spüre den Luftzug, der dem sich nahenden Zug vorauseilt wie ein begieriger Bote. Vor mir schiebt sich Mischa durch die Wartenden, meine Augen sind starr auf den alten Bundeswehrrucksack gerichtet, den er auf dem Rücken trägt.
Mischa übertritt die weiße Linie, steht zu dicht an der Kante. Mischa ist jung, Mischa hat keine Ahnung.
Dem Windzug folgt das Grollen – Zeremonienmeister der U-Bahn. Ich bin Mischa gefolgt, könnte ihn mit ausgestreckten Armen berühren, wenn ich wollte. Er hat keine Ahnung, dass ich da bin. Hat keinen blassen Schimmer, dass ich seit ein paar Monaten fester Bestandteil seines Lebens bin. Alle seine Geheimnisse kenne, besser weiß, was seine Freundin Louisa von ihm als er selbst. Ohne, dass ich sie je getroffen hätte.
Mein Turnschuh schabt über den Bahnsteig, als ich noch einen Schritt näher mache. Gelb füllt der Zug den Eingang Bahnhof, windet sich rasend schnell aus dem Tunnel heraus.
Eine Drehung der Schulter, beide Arme angewinkelt, ich brauche kaum Kraft. Mischa steht nicht fest, wippt ungeduldig, weil er bereits zu spät ist. Er versucht, die Hände aus den Jackentaschen zu reißen, um das Gleichgewicht zu halten, aber es misslingt. Ungeschickt und mit einer halben Drehung stürzt er dem Zug entgegen.
Dem dumpfen Aufprall folgt das Kreischen der Bremsen, Metall auf Metall, dich funkenstiebend ineinander fressen. Vereinzelte Rufe und Schreie, irgendwer packt mich am Arm.
Mir wird schwindelig, die Neonlichter drehen sich kreisend um mich, ich falle auf den kalten Stein.
In meinem Hausflur liege ich auf dem kleinen Teppich, den Kopf gegen den Schuhschrank, den mich Julia gezwungen hat zu kaufen. Mein Herz rast und ich kann den Puls in meinen Schläfen hämmern fühlen. Schließe die Augen. Kurz nur, um den Schwindel zu bekämpfen. Übergangslos falle ich ins Dunkle.

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Kommentare zu diesem Text


 Cassandra (29.01.10)
Wo, um Gottes Willen, nimmst Du die Ideen alle her?

Ich hab den Eindruck, Dir flutschen die Gedanken genauso flott aus der Feder wie seinerzeit dem "Giftpreisträger" (den ich übrigens sehr vermisse...)

So, muss jetzt Deine storys weiterlesen...

LG
Cassandra

 Mutter meinte dazu am 01.02.10:
:D

Schönes Kompliment, danke Dir.
Und ja, mach mal ... ;)
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