Quality Time

Erzählung zum Thema Verfremdung

von  Mutter

Julia erwartet mich bereits in meiner Wohnung. Bevor ich die Dietriche ins Schloss stecken kann, schwingt die Tür auf. Julia tritt wortlos beiseite, um mich rein zu lassen.
Sie geht vor ins Wohnzimmer, ich hole mir ein Glas Wasser aus der Küche. Stehe unschlüssig vor der Couch, auf der sie mit zusammengezogenen Beinen sitzt, biete ihr das Glas an.
Sie schüttelt den Kopf, sieht weg.
Ich stelle das Glas weg, setze mich. ‚Gabi hat dich angerufen, oder?‘
Langsam wendet sie mir ihren Kopf zu, nickt.
‚Konnte es wahrscheinlich gar nicht erwarten, dir davon zu erzählen, der Arsch.‘
‚Das hier hat nichts mit Gabi zu tun, Jakob. Nur mit uns.‘ Sie haucht die Worte fast. Ärgerlich schüttel ich den Kopf. ‚Was für ein Unsinn. Es hat alles mit Gabi zu tun. Nichts von all dem wäre passiert, wenn es ihn nicht gäbe.‘
Ihre Stimme wird lauter. ‚Du hast dich auf diese Scheiße eingelassen. Verrennst dich darin. Du hast gedacht, es sei eine Bomben-Idee, bei dieser hirnverbrannten Geschichte mitzumachen.‘
‚Arrrh!‘, schreie ich in Frustration. Bekomme Kopfschmerzen. Herrsche sie an: ‚Und deswegen willst du dich wie eine kleine Schlampe in dunklen Ecken von irgendwelchen Yuppie-Wichsern ficken lassen?‘
‚Genau das will ich. Das ist mein größter Traum, Jakob. Deswegen habe ich das gemacht‘, zischt sie zurück. Ich habe sie noch nie so wütend gesehen. ‚Ich habe gedacht, das ist doch eine super Idee von euch, und weil ich ohnehin dauernd rattig bin, kann ich’s gleich für Geld tun.‘
‚Hör auf - hör auf!‘ Ich klinge seltsam schrill.
Sie erwidert nichts, sieht mich an. Ihre Wut scheint verdampft. Ich wünschte, sie würde das nicht tun. Mich nicht so ansehen - halte diesen Blick nicht aus. Meine Hand wandert in die Hosentasche, befingert das Perazin. Ich erinnere mich an eine Szene zwischen Luisa und Mischa. Sie hatte ihm vorgeworfen, zu distanziert zu sein, sie nicht mehr emotional an sich heranzulassen. Oder hatte sie mir das vorgeworfen? Bilder schieben sich vor meinem geistigen Auge ineinander, ich starre auf Farbmuster und bunte Flecken, versuche, das 3D-Bild dahinter zu erkennen.
‚Was ist los?‘, will Julia besorgt wissen. Offenbar habe ich geschielt – langsam wandern meine Augen zurück in eine normale Stellung. ‚Jakob, ich mache mir Sorgen. Um dich, aber vor allem um uns. Ich erreiche dich nicht mehr. Es ist, als hättest du deine Umlaufbahn verändert, als treibst du immer weiter fort von mir.‘
Vielleicht sind wir auch einfach zwei Planeten, deren Umlaufbahnen sich kurz gekreuzt haben, und sie sich danach unweigerlich wieder voneinander entfernen. Und sich in ein paar Millionen Jahren wiedertreffen. Ich halte meine Klappe. Schüttel nur den Kopf.
‚Ich dringe einfach nicht mehr zu dir durch. Deswegen war ich in der Agentur. Weil ich wusste – das rüttelt dich wach.‘
Sie bekommt ein schiefes Lächeln als Antwort. ‚Eine einfache Tasse Kaffee wäre mir lieber gewesen.‘ Julia lächelt zurück.
‚Gabi findet es gut, dass wir so mehr Zeit miteinander verbringen können. Sollten Pärchen öfter tun.‘
‚Sehr witzig. Jakob, wir stehen so kurz vor dem Aus.‘ Sie macht eine Geste mit Zeigefinger und Daumen, um mir zu zeigen, wie dicht. Ich sehe nicht hin, denke nach.
Quality time, nennen das amerikanische Pärchen, wenn sie für etwas in der Beziehung verabreden, hat Eric erzählt. Und lachend gemeint, am Ende ist meistens Vögeln gemeint. Jedenfalls wenn Männer darüber reden.
Ist das hier Julias und meine quality time? Ich organisiere, dass halbe Kerle echten Männern die Fresse für Geld polieren können und sie lümmelt sich derweil in Hauseingängen rum? Bei dem Gedanken wird mir schlecht. Und ich frage mich, warum es mir nichts ausmacht, Nanni in einer Kreuzberger Tordurchfahrt zu ficken, aber die Idee, meine Freundin könnte das Gleiche tun, einen Brechreiz auslöst.
‚Ich bin gleich wieder da‘, entschuldige ich mich. Nehme das Glas, fülle es in der Küche auf. Um es gleich darauf in gierigen Schlucken zu leeren – nachdem ich das Perazin geschluckt habe. Frau Doktor wird nicht begeistert sein. Bei unserem nächsten Treffen muss ich erzählen, dass ich das Zeug gleich zwei Mal nehmen musste.
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer.
‚Alles in Ordnung?‘, will sie ein weiteres Mal wissen. Wie ich diese Frage hasse! Die so sehr mein Leben bestimmt – alle wollen immer wissen, ob alles in Ordnung ist. Nichts ist in Ordnung. Ich fühle mich wie ein Kind, das in einem Scherbenhaufen spielt. Noch ist die Haut unverletzt, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bevor die scharfkantigen Splitter sich in weiche Kinderhände fressen.
‚Ja‘, sage ich heiser.
‚Ich will dir helfen, Jakob. Ich arbeite nicht gegen dich.‘
Ichweißichweißichweißichweiß …
Meine Handballen pressen sich auf meine Augen, bis sich bunte Lichter betrunken über meine Lider ziehen. Ich spüre ihre Nähe, sie legt ihren Arm um meine Schulter. Atme ihren Duft. Wie gerne würde ich jetzt unbeschwert und nackt in ihren Armen liegen, gehalten werden. Aber ich kann die Scherben nicht aus der Hand legen.
‚Du musst damit aufhören, Jakob‘, flüstert sie in mein Ohr. Ihre Lippen streifen die Haut meiner Ohrmuschel. ‚Steig aus – du brauchst das alles nicht. Aber ich brauche dich!‘
Und ich brauche dich, will ich schreien. Stumm.
‚Gib mir Zeit‘, presse ich stattdessen hervor. Noch mehr Zeit. ‚Ich regel das. Und steige aus - versprochen.‘
Sie löst sich von mir, geht auf Abstand. ‚Ich würde dir so gerne glauben, Jakob. Dir vertrauen. Aber es fällt mir schwer.‘
Ich nicke. Der Kloß in meinem Hals bewegt sich im gleichen Rhythmus mit. ‚Ich weiß.‘
Julia steht auf, kommt zu mir rüber. Beugt sich zu mir herunter, küsst mich sanft aufs Ohr. ‚Ich warte auf dich. Aber nicht für immer.‘
Dann geht sie.
Ich sitze da, das Gesicht auf die Hände gestützt, denke nach. Fieberhaft, Gedanken quirlen sich durch einen breiigen Wust aus Emotionen. Wahrscheinlich sollte ich darüber nachgrübeln, was ich tun muss, damit mir Julia nicht verloren geht.
Stattdessen denke ich an Blocher. Und an Corben, in Benz‘ Wagen. Und wie die ganzen verfickten Puzzlestücke zueinander passen. Um das Julia-Rätsel kümmere ich mich, wenn ich das erste gelöst habe. Verspreche ich mir selber.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(02.03.10)
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 Mutter meinte dazu am 02.03.10:
Ich versuche mal, da noch mehr Unfrieden zu stiften - kann ich sonst eigentlich ganz gut ... :D
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