Dem Abend eine Stille geben

Erzählung zum Thema Abendstimmung

von  tulpenrot

Schon immer trägt er eine dunkel umrandete schwere Brille mit dicken Gläsern, die seine Augen seltsam hervorstechen lassen, schon immer ist sein Haar lang und schütter. Seit ich denken kann, geht er eilig, leicht vornüber gebeugt seines Weges, sieht nicht nach rechts noch nach links. Und ich weiß nie, ob er mich überhaupt kennt oder ob er Mühe hat mit seinen schlechten Augen mich zu erkennen, ob sein Blick mir gilt oder nicht. Er grüßt selten. Seine Frau jedoch erwidert meinen Gruß meistens. Sie ist blass, ihr blondes Haar auffallend dünn und immer etwas zersaust.

Seit zwei Jahren sind sie meine Nachbarn. Unsere Gärten liegen nebeneinander. Ich liebe meinen Garten mit all seinen Blumen, dem Apfelbäumchen, dem Rotahorn und den Sträuchern. Unter einem schief gewachsenen Zwergahorn, den ich Schattenbaum nenne, steht mein Tisch mit den Gartenstühlen. Es sind immer vier. Schließlich könnte jederzeit Besuch kommen. Ich liebe Besuch. Dort sitze ich, trinke Cappuccino, schreibe, arbeite oder lese, bis es zu dunkel wird oder zu kühl. Zur Mittagszeit klappe ich meinen Liegestuhl dort auf und schlafe ein bisschen im Schatten.

Es ist still in unseren Gärten. Drüben ist tagsüber von den Nachbarn nicht viel zu sehen. Manchmal steht ein einsamer Wäscheständer mit Leibwäsche auf der Gartenterrasse, die von einem Steingarten umgeben ist. Grau und trocken sieht er aus und ich wundere mich jedes Mal, dass dort kaum Pflanzen zu sehen sind. Um die Mittagszeit ruht sich mein Nachbar des öfteren still auf einem Stuhl mit geschlossenen Augen aus. Dann wirkt er sehr alt und müde.

Abends jedoch sitzt er wortlos neben seiner Frau auf der klobigen, aus rohem Holz gezimmerten Bank. Ein verblichener gelblicher Sonnenschirm ist auf dem Ständer so winzig zusammengefaltet, dass er nicht stört, wenn er mit dem Fernrohr am abendblauen Himmel den Vögeln nachschaut. Er kennt sie alle mit Namen, vertraut ist er mit allen Wipfeln, jedem Hauch der Natur spürt er nach - mehr braucht er nicht für seine Abendruhe.

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Kommentare zu diesem Text


 Jorge (05.03.10)
Eine unaufdringliche stille Beobachtung der Nachbarn.
Ohne Vorwürfe > schlicht und sachlich und sprachlich gekonnt.
Gut gemalte Wortbilder. LG Jorge

 tulpenrot meinte dazu am 06.03.10:
Hallo Jorge, genauso sollte es sein. Danke für deine gute Bewertung und für all deine Sternchen. Freu mich darüber!
LG
Angelika

 AZU20 antwortete darauf am 06.03.10:
Schließe mich Jorge an. LG

 tulpenrot schrieb daraufhin am 06.03.10:
doppelt (gelobt) hält besser - danke, Armin
LG
Angelika
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