Phantomschmerz

Erzählung zum Thema Verlust

von  Mutter

Was macht Gabis Tod mit mir? Ich fühle mich merkwürdig betäubt – als sei ein elementarer Teil von mir selbst plötzlich verschwunden. Gabi hatte mich seit Jahren begleitet, ich kann mich an ein Leben ohne ihn nicht mehr erinnern. Wie ein Schatten hat er mich überall hin begleitet, zumindest in Gedanken. Oder ich war der Schatten gewesen – vielleicht das passendere Bild.
Wie oft hatte ich unbewusst überlegt, was er zu Sachen sagen würde – zu Erlebnissen, zu Leuten, die ich traf, zu irgendwelchem Zeug. Ich hatte ihn internalisiert, eigentlich hätte ich komplette Gespräche zwischen mir und ihm führen können, ohne dass er anwesend ist. Ich glaube nicht, dass ich es schaffen werde, auf seine Beerdigung zu gehen – wann auch immer die sein wird.
Stattdessen fahre ich nach Mitte, gehe auf den Jüdischen Friedhof. Dort stehen verwaschene Sandstein-Grabsteine bedeckt unter dichten Flechten von Efeu und anderen Kriechgewächsen, und es sieht überhaupt nicht beängstigend aus. Fast, als bräuchte man vor dem Tod keine Angst haben, wenn man an einem derart friedlichen Ort endet.
Nachdenklich gehe ich auf den engen Wegen entlang, sehe mir die alten Gräber an und denke an Gabi. An die verschiedenen Situationen, die wir zusammen erlebt haben. Daran, wie sich unser Verhältnis langsam gewandelt hat. Als wir uns kennengelernt haben, waren wir uns ebenbürtig. Gleich gestellt.
Dann ist die Geschichte mit Mischa passiert und ich bin abgestürzt. Dädalus ist einfach weitergeflogen, hat nur einen letzten bedauernden Blick zurückgeworfen. 
Scheiße, war Ikarus nicht sein Sohn? Dann passt der Vergleich eher nicht – als Vaterfigur hatte ich Gabi jedenfalls nie gesehen.
Ich betrachte einen Haufen von Kieseln und kleinen Steinen, die auf einem Grabstein liegen, erinnere mich an den jüdischen Brauch, auf diese Art ein Grab zu ehren.
Ich suche mir einen Grabstein, der so alt ist, dass die Inschriften darauf längt vergangen sind wie Liebesschwüre, die junge Pärchen in den nassen Sand am Strand zeichnen. Stelle mir vor, das sei Gabis Grab. Ich suche mir einen Stein auf dem Weg – nehme mir diesen und jeden, werfe sie weg. Keiner scheint der richtige. Endlich habe ich einen, von dem ich glaube, dass er Gabis ist. Ein Handschmeichler, der angenehm und sanft in der Kuhle meiner Hand liegt. Mit einer kleinen Macke an der einen Seite, einer scharfen Kante, die in meinen Handballen drückt, wenn ich die Faust schließe. Mit einem Lächeln steige ich über die niedrige Begrenzung des Grabes, presse meine Finger fest zusammen, um den Schmerz zu spüren. Lege ihn ganz sachte und vorsichtig oben auf den Grabstein. Verabschiede mich.
Als ich zurück auf den Weg trete, sehe ich, dass eine alte Frau mich beobachtet. Missfällt es ihr, dass ich das Grab betreten habe? Ich bemerke, dass sie lächelt. Mir aufmunternd zunickt. Ich erwidere die Geste, wir gehen auf dem schmalen Weg so dicht aneinander vorbei, dass wir uns fast berühren können.
Ich suche mir meinen Weg zurück zum gusseisernen Ausgang aus diesem überwucherten Labyrinth aus Efeu und Sandstein. Fühle mich erleichtert.

Zwei Tage später komme ich aus dem Holländer an der Ecke Mariannenstraße, die Schale mit Pommes, Mayo und rohen Zwiebeln auf der Hand, als Leif vor mir steht. Scheint mindestens so überrascht wie ich. Er sieht gehetzt aus, die Augen rot, als würde er nicht richtig schlafen. Ich schätze, die Sache mit Gabi geht ihm an die Nieren. Ich betrachte ihn, während ich von einer Pommes abbeiße, den Biss der Zwiebel spüre.
Strecke ihm die Schale hin, er ignoriert mich.
‚Mick hat mich an dich verwiesen. Zu Hause warst du nicht.‘
Keine Ahnung, was jetzt kommt. Aber wir blockieren den Eingang, und als ein Punker-Pärchen hinter uns mit ihren Fleischbällchen in Erdnusssoße durch will, schiebe ich mich an Leif vorbei, gehe langsam die Straße runter. Er folgt mir.
‚Es war kein Unfall.‘
Ich halte mitten in den Bewegung inne, mein Pommes zappelt ein wenig vor meinem offenen Mund – als will der unbedingt da rein. Ich drehe den Kopf, sehe Leif an. ‚Das mit Gabi? War kein Unfall?‘
Er schüttelt stumm den Kopf, und schlagartig verstehe ich sein Aussehen. Bisher hat er sich vermutlich Vorwürfe gemacht – das Ding auf seine Kappe genommen. Irgendeine Schraube nicht fest angezogen, einen Gurt nicht gesichert, was weiß ich. Und Gabi hat es verrissen, knapp daneben ist auch vorbei – und voll gegen die Strebe.
‚Haben das die Bullen gesagt?‘
Leif nickt. ‚Die haben auch eine Obduktion angeordnet. Obwohl sie sich ziemlich sicher sind, dass einfach die Ratchet manipuliert worden ist.‘
‚Die Maschine, die ihn nach hinten gefetzt hat?‘ Er zuckt bei meiner Wortwahl zusammen. Schluckt, nickt.
‚Wer soll da dran rumgefummelt haben?‘ Als ich die Frage stelle, mir danach versuche, lässig ein paar Pommes in den Mund schiebe, habe ich tatsächlich keine Ahnung, was die Antwort sein könnte. Aber dann fallen mir schlagartig mehrere Möglichkeiten ein und mein Magen zieht sich zusammen. Was ist mit Mick – der war ewig lange weg. Hat der seinen Patzer von neulich Nacht wettgemacht? Genug Zeit hätte er gehabt.
In mir pulsiert ein Schmerz, so fein wie der Schnitt, der durch ein Blatt Papier entsteht. Den man erst nicht bemerkt, der scheinbar entsteht, wenn man zusammen zuckt und an dem Finger saugt. Und sieht, dass Blut aufsteigt, sich auf dem Finger in anschwellenden Tropfen bildet. Gabi ist weg, und es war kein Unfall. Ich komme mir vor wie ein Amputierter, der einen akuten Anfall von Phantomschmerzen im fehlenden Körperteil verspürt. Welches Körperteil war mir mit Gabi verloren gegangen?
Meine Gedanken wandern zurück zu Leif und dem, was er erzählt hat. Verdächtigt mich vielleicht jemand? Sofort befinde ich mich wieder auf dem Bahnsteig, sehe Gabi vor mir, verspüre den Drang, ihn vor den Zug zu stoßen. Ich hatte das Bedürfnis, ihn zu töten – das macht mich zu einem Hauptverdächtigen. Aber es kennt niemand diese Gedanken, versuche ich mich selbst zu beruhigen. Niemand außer Gabi und mir war dort. Außer Mischa. Es schüttelt mich, als würde ich frieren, ein paar der Pommes fallen aus dem Schälchen. Leif sieht mich mit durchdringendem Blick an. Möglicherweise hält er mich für verdächtig. Vielleicht nicht vorher – aber ganz bestimmt jetzt. So komisch wie ich mich benehme.
Ich wische mir mit dem Ärmel über die Stirn, den feucht-kalten Film weg, der sich dort gebildet hat. Dabei fallen die restlichen Pommes aus dem Schälchen. Ich starre auf die gelben Stifte dort am Boden, auf das fettglänzende Stück Pappe in meiner Hand. Feuere die Schale in einen Busch.
Leif schiebt die Pommes mit der Fußspitze durch den Dreck. Schüttelt den Kopf. ‚Warum sollte jemand so etwas tun? Und wer?‘
Ich beiße mir auf die Zunge, um ein kieksiges Lachen zu verhindern. Wer nicht, wäre die angebrachtere Frage – ich, Mick, Blocher, Corben. Gabi hatte echt genug Leuten ans Bein gepinkelt, sich mit reichlich Arschlöchern eingelassen, dass es zumindest genügend Verdächtige geben würde. Meine Gedanken kehren zurück zu Mick. Er war dagewesen. Mickmickmick.
Scheiße.
‚Ich muss los‘, sage ich und gehe unvermittelt Richtung Kotti. Als müsste ich mich von Leif gewaltsam losreißen.

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Kommentare zu diesem Text


 Melodia (19.03.10)
mittlerweile habe ich den überblick darüber verloren, was du geändert hast... aber: es sind und bleiben einfach gute texte!

lg

 Mutter meinte dazu am 19.03.10:
Ich habe Gabi getötet. Mehr nicht ... :)

Danke.

 Melodia antwortete darauf am 19.03.10:
moment.... das war vorher doch auch schon... oder bin ich schon so dement?

lg

 Mutter schrieb daraufhin am 19.03.10:
Nicht dement - nur immer einen Tag zu spät. ;)

 Melodia äußerte darauf am 20.03.10:
ja aber das hat methode!^^ ich lese immer alle texte vom vortag... dann "verpasse" ich keinen...
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