Eprouvette

Roman zum Thema Begegnung

von  Mutter

Unschlüssig spiele ich mit dem Handy in meiner Handfläche – lasse es rotieren, einen kleinen Salto machen. Manu hat noch zweimal angerufen. Zu der Entscheidung, Manu zu sehen und damit gleichzeitig ihr und mir zu helfen, hatte ich mich erst durchringen müssen. Obwohl ich es Dirty heute Nachmittag versprochen hatte.
Jetzt stehe ich vor ihrem Haus. Unserer Wohnung hatte ich mich gestellt, jetzt würde ihr entgegentreten. Heftig schlucke ich. Werfe einen Blick auf den Bock, den ich an der Ecke geparkt hatte. Nicht direkt vor ihrer Haustür – für den Fall, dass ich doch kalte Füße bekommen würde. Ich versuche mir vorzustellen, wie es ihr geht. Was es mit ihr macht, dass man ihre Schwester umgebracht hat. Was Wehmeier und der Arsch Dombrowski ihr für Fragen gestellt haben. Der Gedanke an die beiden Bullen verdrängt den Schmerz und vor allem Angst – macht Raum für einen unterschwelligen Zorn. Als hätte ich bereits beschlossen, dass die beiden Penner mir nicht helfen können. Ich muss an das Bild in meiner Tasche denken. An den Tiger, den wir suchen. Das ist nicht der Tiger, den ich kenne. Von dem ich dachte, dass ich ihn kenne.
Ich gebe mir einen Ruck und presse meinen Daumen auf die Klingel. Viel zu lang, denke ich, als ich endlich von ihr ablasse.
Ein paar Herzschläge später meldet sich knisternd die Gegensprechanlage. „Ja?“, will sie wissen.
„Ich bin’s. Luca.“
Statt einer Antwort brummt der Türöffner und ich lehne mich mit der Schulter dagegen, stemme die Tür auf.
Gehe mit Herzklopfen den Flur entlang – guter Charlottenburger Altbau. Marmor an den Wänden, große Spiegel und ein roter Teppich. Einen dieser alten Fahrstühle, die aussehen, als gehören sie in einen Schwarz-Weiß-Film gibt es auch. Ich nehme die Treppe.
Die Tür steht bereits offen, als ich in den dritten Stock komme. Von Manu ist nichts zu sehen. Erst nachdem ich eingetreten bin und die Tür hinter mir geschlossen habe, merke ich, dass ich die Luft angehalten habe. Genau wie in unserer Wohnung. Als würde sich mir hier ein ähnliches Bild bieten. Stattdessen muss ich mich mit Luisas Gespenst auseinandersetzen.
Sie wartet im Wohnzimmer auf mich. Steht am Tisch, in einem schwarzen Kleid, die Finger beider Hände ineinander verschränkt. Ich muss an Wehmeier und seine Bethaltung denken. Luisa war nicht gläubig – aber ich habe keine Ahnung, wie es Manu mit Gott hält. Wäre ein passender Moment, um ihn für sich zu entdecken.
Ich bleibe im Eingang stehen, stumm mustern wir uns. Sie sieht erstaunlich gefasst aus – die Augen erinnern an Heuschnupfen, aber ihr dezentes Make-Up ist unbeschädigt und sie lächelt mit halbem Mund. Unsicher.
Ich frage mich kurz, wie viele Male sie ihr Gesicht heute wohl schon reparieren musste. Mir wäre längst das Mascara ausgegangen, so oft hatte ich schon geflennt.
„Hey“, sage ich und meine Stimme verliert sich schüchtern im Raum.
„Hallo Luca“, antwortet sie und aus dem halben wird ein ganzes Lächeln. „Komm rein.“
Ich nicke, sehe mich kurz um. Ziehe die Schuhe aus, kicke sie in den Flur. Luisa hatte jeden Besucher gnadenlos gezwungen, in der Wohnung auf Socken zu laufen. Mich natürlich sowieso. Ein paar meiner Kumpels hatten schnell gelernt, dass es nicht schlau war, völlig zerstörte Socken zu tragen, wenn man uns besuchte. Dirty besaß sogar ein Paar ‚Luisa-Socken‘, behauptete er. Dabei hatte ich den Franzosen noch nie Löchern gesehen.
Als ich mich erneut Manu zuwende, hat sie es gewagt, einen halben Schritt nach vorne zu machen. Ist offenbar genau so unsicher wie ich. Und ich entscheide, dass sie nicht Luisas Geist ist. Sie sieht ihr ähnlich, und wird mich mein Leben lang an sie erinnern – aber nicht bewusstlos würde ich die beiden verwechseln. Wer nicht so viel mit den beiden eineiigen Zwillingen zu tun hatte, mochte getäuscht werden, aber die vielen feinen Unterschiede machen es mir unmöglich, sie für Luisa zu halten. Bewegungen, Kopfhaltung und minimale Unterschiede, vor allem im Gesicht. Manus Nase hat einen winzigen kleinen Buckel, der Luisa fehlt.  Ihre Augen stehen etwas weiter auseinander, sind einen Hauch mandelförmig.
Ich verspüre wieder diesen Stich. Manu ist wunderschön. Genauso schön war meine Luisa. Muss trocken schlucken. Sie sieht mich besorgt und nervös an. Hat meine Musterung bemerkt, kommt sich vermutlich vor wie im Reagenzglas, dass ich prüfend mit zusammen gekniffenen Augen gegen das Licht halte. Um die chemische Reaktion zu überprüfen.
Aus dem Nichts taucht eine Erinnerung an die Schule auf. Dass man die Dinger Eprouvette nennt. Macht mich lächeln.
Manu erwidert die Geste, ohne zu ahnen, was für absurdes Zeug mir durch die Birne geht. Aber damit ist das Eis gebrochen. Wir machen einen Schritt aufeinander zu, umarmen uns. Halten uns aneinander fest, mir ist, als könnte ich sie nie wieder loslassen.
Irgendwann lehnt sie sich zurück, hält mich dabei immer noch an den Oberarmen umfasst. Ihre Augen schimmern feucht. Sie macht den Ansatz, etwas zu sagen, schließt den Mund.
Ich schüttel den Kopf, lege ihr eine Hand auf den Hinterkopf, bette ihr Gesicht an meine Brust. Alle Worte haben sich vor Angst versteckt.

Es ist fast dunkel im Zimmer. Wir sitzen uns an ihrem großen Esstisch gegenüber, ihre rechte Hand  ist unter meinen beiden begraben. Immer noch stumm sehen wir uns an, der Tee in unseren Tassen ist längst kalt geworden, ausgeschüttet und erneut kalt geworden.
Zögernd richtet sie sich aus der unbequemen Haltung auf, zieht ihre Hand langsam unter meinen hervor. Sofort denke ich an das Kinderspiel, bei dem sie ihre jetzt auf meine patschen würde. Dann meine unterste, immer wieder, immer schneller.
„Wir sollten etwas essen“, sagte sie. Ihre Stimme klingt zu laut in dem verstummten Zimmer. Ich nicke. Mein Magen knurrt – ich habe keine Ahnung, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Ich beobachte, wie sie Richtung Küche geht.
Einen Augenblick später zurück kommt, wie desorientiert. Lächelt mich mit ihrem Luisa-Lächeln an. „Auf was hast du Lust?“
Mehr als ein Schulterzucken kann ich ihr nicht anbieten. Was weiß ich denn?
„Soll ich uns einen Salat machen? Und Rührei?“
„Klingt gut“, antworte ich, erzwinge noch ein kleines Lächeln, das sie erwidert. Dann verschwindet sie in der Küche.
Ich schiebe den Stuhl zurück, trete ans Fenster. Öffne es, atme die kühle Luft ein. Es riecht nach Regen. Drüben fehlt wie eine Zahnlücke ein Haus. In dem ausgebombten Raum sind jetzt statt Stein und Mörtel Büsche und ein Kinderspielplatz zu sehen. Ein türkischer Vater gibt seiner Tochter auf der Schaukel Anschwung. Die Mutter sitzt auf der Bank, schaut zu.
Manu zu sehen ist gleichzeitig einfacher und schwieriger als ich dachte. Meine Angst ist weg – meine Furcht davor, was es bedeutet, ihr gegenüber zu stehen. Weil sie nicht Luisa ist. Geblieben ist nur ein unbestimmtes Gefühl von Schmerz, von dem ich befürchte, dass sie ihn hervorruft. Weil sie mich nicht verdrängen lässt. Es ist, als würden wir beide auf einem Kettenkarussell  der Trauer fahren – Runde um Runde. Irgendwer schmeißt uns mit vollen Händen die sechseckigen Plastikchips zu. Nicht loskommen.
Ich habe die Vermutung, dass das gut ist. ‚Trauerarbeit‘, hatte das der Pastor damals bei dem Begräbnis meiner Tante genannt. Arbeit, die geleistet werden muss. Verdrängung hilft uns nicht weiter, hatte er über den Rand seiner niedrigen Brille gesagt, und uns dabei mahnend angesehen. Damals musste ich nicht arbeiten – ich war zu jung und meine Tante stand mir nicht nahe.
Jetzt ist es die reinste Plackerei. Und ich frage mich, wann sie ein Ende hat. Was kommt dann? Wenn ich mit Trauerarbeiten fertig bin – habe ich Luisa dann vergessen? Bedeutet sie mir dann nichts mehr? Davor habe ich Angst.
Ich will das, was sie in meinem Leben dargestellt hat, nie wieder hergeben müssen. Immer in mir drin behalten. Luisas Andenken ist mein Sandkorn, das ich in mir einschließen und in eine Perle verwandeln will.

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Kommentare zu diesem Text

Perkele (40)
(19.04.10)
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 Mutter meinte dazu am 20.04.10:
Was für ein wunderbarer Kommentar, da sitz ich gleich aufrechter. Danke schön ... :)

Drehbuchschreiben - mmh, über's Plotten bin ich nie hinausgekommen. Außerdem wurschteln da immer so viele andere Leute mit. ;)
Kitten (36)
(20.04.10)
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 Mutter antwortete darauf am 20.04.10:
:)

 franky (05.05.10)
Dieser Satz giebt auch mein Gefühl wieder, das mich bei deinem atemberaubenden Erzählkünsten erfüllt:
"Es ist, als würden wir beide auf einem Kettenkarussell der Trauer fahren – Runde um Runde."
Sagt alles und nimmt einfach mit!

Grüße

Franky

 Mutter schrieb daraufhin am 07.05.10:
Ahem ...
*leichtrotwerd*

Danke! :)
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