Banlieue

Roman zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit

von  Mutter

„Woher kennt ihr euch?“, will ich wissen.
„Wir sind zusammen aufgewachsen. In einem Vorort von Paris.“
Dirty pfeift bei Broussards Worten leise, fragt dann: „Tiger ist Franzose? Hört man kein Stück“ Der Sprayer nickt. „Dabei ist er erst seit sechs Jahren oder so hier. Ich schon, seit ich zwölf bin. Tiger ist von Haus aus ein Sprachgenie gewesen. Der hat auch fließend Englisch gesprochen.“ Er lächelt verlegen. „Ich dagegen habe meinen Akzent nie ganz ablegen können.“
„Was ist passiert? Wie seid ihr hergekommen?“, frage ich ihn.
„Mein Vater hat einen Job in Berlin angenommen, als ich zwölf war. Vorher war er arbeitslos. Da sind wir übergesiedelt. Freunde aus dem Saarland haben uns geholfen.“
„Und Tiger?“
Broussard verzieht das Gesicht. „Hat dem das Herz gebrochen. Wir haben meine Eltern angefleht, ob wir ihn nicht mitnehmen können. Gebettelt, geheult, gewütet. Es hat nichts genutzt. Er durfte nicht mit. Er ist in der Hölle zurückgeblieben.“
„In der Hölle? Was meinst du?“
„Banlieue“, sagt er nur, sieht mich intensivem Blick an. Mir läuft trotz der Theatralik ein Schauer über den Rücken. Von den Beton-Ghettos der Einwanderer rings um Paris hatte ich oft genug gehört.
Broussard zuckt mit den Schultern. „Sein Vater war ein Arschloch. Bei dem wollte er auf keinen Fall bleiben. Es hat fast vier Jahre gedauert, bis er den Mut zusammen hatte, um zu fliehen.“
„Er ist abgehauen? Wie alt war er da? Sechszehn?“
Der Franzose nickt. „Ungefähr, ja. Ist weg aus Paris und hat sich mit Trampen bis hierher durchgeschlagen.“
„Und dann?“, fragt Dirty. Ich antworte anstelle von Broussard. „Er hat eine Weile auf der Straße gelebt, sich durchgeschlagen. Als Zettelverteiler gearbeitet.“ Der Sprayer sieht mich überrascht an, nickt.
Ich beantworte seine stumme Frage: „Ich habe in dem Jugendheim als Erzieher gearbeitet, in dem Tiger eine ganze Weile aufgetaucht ist. Er hat damals schon perfekt Deutsch gesprochen. Akzentfrei. Wir sind davon ausgegangen, dass er aus Westdeutschland rüber ist.“
„Dann müsstest du mich eigentlich auch kennen“, sagt Broussard mit einem schiefen Lächeln. „In Zentrum haben wir uns immer getroffen. Damit meine Eltern nichts davon erfahren.“ Noch ein Schulterzucken. „Wir hatten Angst, sie schicken ihn zurück nach Frankreich. Obwohl sie wussten, was für ein Wichser sein Vater ist.“
„Was ist mit seiner Mutter?“
„Die ist bei der Geburt seines Bruders gestorben. Das Baby ist dabei auch draufgegangen - er hat keine Geschwister oder so. Verwandte hat’s da aber noch.“
Plötzlich raffe ich, dass ich mit Broussard den Schlüssel zu Tigers großem Geheimnis in den Händen halte. „Wie heißt Tiger mit bürgerlichem Namen?“ Kann mir kaum vorstellen, dass er sich seinen Nick schon mit zehn, zwölf Jahren gesucht hat.
Broussard sieht mich überrascht an. „Lucien Lefevre.“
„Yes!“ Dirty reißt die geballte Faust am Arm nach unten. Ich muss lächeln.
„Was denn?“, will Broussard wissen.
Ich kläre ihn auf. „Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch in dieser Stadt, der weiß, wie Tiger wirklich heißt. Alle anderen haben keine Ahnung – nicht sein Mitbewohner, nicht sein Betreuer, nicht sein Arbeitgeber. Niemand.“
Der Sprayer schürzt die Lippen. „Okay. Ich hoffe, ich habe nichts verraten, was er geheim halten wollte.“ Er grinst über seinen eigenen Witz, aber Dirty und ich lächeln nicht mit.
„Wie war die Adresse damals? Wo er gewohnt hat?“
Er nennt eine französische Adresse und ich fordere Dirty mit einer Kopfbewegung auf, sie sich zu merken. Er nickt.
„Hast du eine Handynummer, unter der ich dich erreichen kann?“, frage ich Broussard.
„Klar.“
Wir tauschen kurz die Nummern aus, dann fragt er: „Wieso ist Tiger verschwunden? Beziehungsweise, wieso sucht ihr ihn?“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich mache mir Sorgen.“ Er nickt. „In Ordnung. Sobald ich was weiß, melde ich mich.“
Dirty hält ihm die Faust hin. Nach einem Moment der Verwirrung tickt Broussard mit seiner dagegen. Ich beschränke mich darauf, zum Abschied die Hand zu heben. Bevor wir komplett durch den Spalt wieder nach draußen sind, hören wir hinter uns schon das Zischen der Dose. Danach das Klack-klack-klack.
„Oh Mann – Franzose!“ Dirty sieht im Gehen entgeistert an. „Hast du das geahnt?“ Natürlich nicht. du Depp, denke ich. Antworte nichts.
„Und völlig akzentfrei!“
Ich versuche, ihn wegzublenden, nachzudenken. Wasjetztwasjetztwasjetzt? Ich weiß es nicht.
Im Auto lasse ich mich schwer in den Sitz fallen, lehne den Kopf gegen die Stütze hinter mir. Dirty wartet ab, lässt den Wagen noch nicht an.
Nach einem Augenblick drehe ich mich zu ihm um und frage hilflos: „Was fange ich mit der Info an?“
Als er nicht sofort antwortet, rede ich weiter. „Zu Wehmeier? Ich nehme an, die setzen sich bloß mit den Franzosen in Verbindung und …“
„Vergiss es!“, unterbricht er mich abrupt. „Die finden da gar nichts raus. Nichts, was dir nützt.“
„Wieso das?“
„Mann, das ist das Banlieue. Die Hölle von Paris. Die Leute da reden nicht mit dem Filz. Da sind die Lippen versiegelt.“ Er macht eine Bewegung mit Daumen und Zeigefinger quer über den Mund. Reißverschluss.
Ich nicke. „Also?“
Er grinst. Zuckt mit den Schultern und sagt: „Wir fahren nach Paris.“
„Spinnst du?“
Er sieht nach vorne aus der Windschutzscheibe auf den vorbeiziehenden Verkehr Richtung Treptow. „Wieso nicht? Wir haben die alte Adresse – jede Wette, dass wir zumindest was über die Familie rausfinden. Jedenfalls mehr als der Filz!“ Ich habe den Verdacht, dass er die Geschichte mit der Polizei zu persönlich nimmt, als eine Art privaten Wettstreit. Aber ich habe auch keine andere Idee, wie wir stattdessen weitermachen könnten.
Er nimmt mein Schweigen als Zustimmung. „Also Paris?“
Ich verziehe unwillig das Gesicht, nicke. Dirty jubelt. „Ich war schon viel zu lange nicht mehr da.“ Entschlossen lässt er den Motor an. „Gleich?“, will er noch wissen, während er aus der Parklücke zieht.
Kopfschüttelnd sehe ich auf die zurückbleibende Hall of Fame und das Wasser der Spree, was man zwischen Mauerstücken und Büschen aufblitzen sieht.

„Ihr wollt nicht ernsthaft mit dem Auto nach Paris fahren?“ Manu sieht mich entgeistert an. Obwohl Dirty das Gefühl hatte, wir müssten nur packen und könnten sofort los, rauf auf die Straße, wollte ich zumindest Manu Bescheid geben. So viel, dachte ich, schulde ich ihr.
„Es ist die einzige Spur, die ich von Tiger habe. Wenigstens etwas, dem ich nachgehen kann.“
„Aber was versprecht ihr euch davon? Er lebt seit Jahren in Berlin.“
Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht können wir mit seinem Vater reden. Möglicherweise weiß jemand was über ihn – wo man ihn hier finden kann.“ Aber den eigentlichen Grund nenne ich nicht. Ich will endlich verstehen, wer dieser Tiger ist. Wen habe ich in unsere Wohnung gelassen, wem Luisa überlassen? Es treibt mich, peitscht mich vorwärts – ich muss wissen, ob ich mich wirklich so sehr in ihm getäuscht habe. Letztendlich will ich herausfinden, ob ich Schuld bin. Die Tränen kommen, wie immer ungefragt. Ich fühle mich so gottverdammt hilflos, so verantwortlich.

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Kommentare zu diesem Text


 Melodia (30.04.10)
Lucien Lefevre.... irgendwoher kenne ich diesen namen...

lg

 Mutter meinte dazu am 30.04.10:
Habe gerade mal gegoogelt - der hat so alte Werbeplakate gemacht. :)

 Melodia antwortete darauf am 30.04.10:
ja soweit war ich auch^^ aber daher kenne ich den namen ziemlich sicher nicht... egal... guter name für tiger!

lg
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