Gelb - Das Ende

Roman zum Thema Rache

von  Mutter

Rawai fühlte sein Herz klopfen. Es schien in seiner Brust zu hämmern und drohte, alle anderen Geräusche zu übertönen. Aber auch, wenn er sie nicht hören konnte, wusste er doch, welche Laute jetzt folgen würden. Er hatte sie in den vergangenen Jahren immer wieder gehört, immer am selben Tag. Heute war dieser Tag.
Er hatte extra ein Dutzend Männer in Hiroi anheuern lassen, aber die taugten nichts. Tunichtgute und Halsabschneider, von denen die eine Hälfte vermutlich betrunken, und die andere Hälfte bereits tot war.
Nachdem der Schatten das erste Mal erschienen war, vor vier Jahren, hatte Rawai eine Menge Geld ausgegeben und die besten Leibwächter und Söldner angeheuert, die man für Geld kaufen konnte. Es hatte ihm nichts genützt. Die meisten von ihnen waren gestorben, er hatte sein linkes Bein verloren und sein ältester Sohn war Opfer des Schattens geworden. Im Jahr danach hatte ihm der Schatten sein rechtes Bein, seine älteste Tochter, und noch besser bezahlte Wächter genommen.
Inzwischen gab es fast niemanden mehr, der für Rawai arbeiten wollte. Für ihn zu arbeiten war gleichbedeutend mit dem Tod.
Jedes Jahr schlich sich ein mysteriöser Angreifer auf sein Anwesen, tötete, wen er musste, um zu Rawai zu gelangen und stahl ihm ein bisschen mehr von seinem Leben.
Ohne Arme und Beine war Rawai auf die Hilfe seiner verbleibenden Diener angewiesen und lag Tag für Tag in seinem abgedunkelten Zimmer - wartete wie eine hilflose, weiße Made auf den nächsten Besuch.
Dieses Mal hatte er der Versuchung widerstanden, sich mit Leuten zu umgeben, die ihm doch nicht helfen konnten. Die Trunkenbolde brauchte er, um die Illusion aufrecht zu erhalten. Die Männer befanden sich unten – im oberen Stockwerk gab es außer Rawai niemanden mehr. Er hatte alle weggeschickt, ihn alleine zurücklassend, um im Dunklen auf den Besucher zu warten.
Er konnte die Vibration des Fußbodens spüren, aber ansonsten war kein Laut zu hören. Obwohl er darauf vorbereitet war, erschrak er, als die Stimme leise in sein Ohr flüsterte. ‚So ganz alleine, alter Mann? Wo sind deine Bewacher, deine Diener, deine Frau?‘
Rawai schloss die Augen. Beim zweiten Mal hatte ihn der Schatten bei Bewusstsein gelassen, und er hatte geschrien. Erst waren drei der Wächter ins Zimmer gestürmt, dann auch seine Frau, und sie waren alle gestorben. Aber seine Frau war nur ein Unfall gewesen, hatte der Schatten gesagt, und ihm trotzdem seine Tochter genommen.
Rawai hatte dagelegen, hatte in die toten Augen seiner Frau gesehen und hatte erst das Bewusstsein verloren, nachdem der Schatten ihm sein Bein abgenommen hatte. Sehr fachmännisch und sorgfältig - die Wunde mit heißem Pech versorgt, damit sein Patient nicht über Gebühr zu Schaden kam.
Rawai hatte sich damals nicht ausmalen können, zu welcher Grausamkeit der Schatten noch fähig sein würde.
‚Wer bist du? Was willst du? Hast du mir nicht schon genug angetan?‘ Seine heisere Stimme klang in den eigenen Ohren merkwürdig spröde.
‚Ich bin meines Vaters Sohn, und heute Abend siehst du mich zum letzten Mal. Ich habe alles, was ich will. Siehst du das hier?‘
Mit Mühe konnte Rawai den Kopf drehen und sah im fahlen Mondlicht etwas in der Hand des Schattens liegen. Es sah aus wie ein Stein oder eine kleine Kugel.
‚Du weißt nicht, was das ist, aber du hast es aus dem Haus meines Vaters mitgenommen, nachdem du ihn umgebracht hast und bevor du unser Haus niedergebrannt hast. Diesen Stein habe ich mir geholt, er ist mein Erbe. Du bist mein Erbe.‘
‚Ich verstehe nicht‘, flüsterte Rawai mit rauer Stimme. Er konnte sich an den Stein kaum noch erinnern. Jemand hatte ihn damals gut dafür bezahlt, ihn zu besorgen, aber sein Auftraggeber war verstorben, bevor er den Stein abliefern konnte. Wie genau er an den Stein gekommen war, daran besaß er keine Erinnerung mehr. Zu viele Jahre waren seitdem vergangen.
‚Und heute Abend habe ich deinen Jüngsten dem Tod überantwortet. Du bist der letzte deiner Linie, und mit diesem Gedanken wirst du hoffentlich noch lange leben.‘
Ohne eine Regung lag Rawai da, konzentrierte sich allein aufs Atmen.
‚Und den Sohn des Schäfers habe ich zu seiner Familie zurückgebracht.‘
Rawai wusste, dass der Schatten auf jede Regung von ihm lauerte. Obwohl er versuchte, ihm diesen Triumph zu versagen, konnte er einen Ausdruck des Schmerzes, ein Stöhnen, nicht unterdrücken.
Nachdem seine Tochter durch den Schatten getötet worden war, hatte er seinen Jüngsten zu einer Familie im Dorf gegeben, und den Jungen des Schäfers bei sich aufgenommen, in der Hoffnung, den Schatten über die Jahre hinweg zu täuschen.
‚Ich sehe dich in der nächsten Welt, Rawai. Dort werde ich dich genauso jagen wie in dieser. Ich bin dein Fluch.‘ Der Mund des Schattens kam seinem Ohr so nahe, und sprach so leise, dass es sich fast anfühlte, als erklänge die Stimme direkt in seinem eigenen Schädel.
Mühsam drehte Rawai den Kopf und sah den Schatten zum ersten Mal seit vier Jahren mehr als schemenhaft. Nahe dem offenen Fenster, wurde sein helles, kurzes Haar vom bleichen Mond beschienen und verschärfte seine ohnehin kantigen Gesichtszüge. Etwas in seinem Gesicht, in seinen Zügen, erinnerte Rawai an einen Mann aus seiner Vergangenheit. Einen Mann, der ihm einst gegeben hatte, was er wollte.
‚Ein langes Leben, alter Mann.‘ Damit verschwand der Schatten lautlos durchs offene Fenster und Rawai konnte den dunklen Raum auf sich einstürzen fühlen. Er wollte schreien, betteln und winseln, aber aus seiner wunden Kehle kam kein Laut. Unfähig, sich zu rühren, lag er hilflos in seinem Bett, und schwarze Bitterkeit stieg in ihm hoch.
Zum wiederholten Male verfluchte er sein Schicksal. Er hatte in seinem Leben oftmals Rache genommen, an Männern, die ihn übervorteilt oder herausgefordert hatten, an Frauen, die ihn verlacht hatten, aber seine Rache war immer der Tod gewesen. Nicht das Leben, welches ihm der Schatten gelassen hatte.

...

Barde sah auf, als der blonde Mann mit dem Jungen die Lichtung betrat. ‚Und?‘
Anosh stieß den Jungen vor sich her und setzte sich ans Feuer.
Er goss sich einen Schluck Tee ein und trank, während er den knapp Achtjährigen ihm gegenüber betrachtete.
‚Ich frage mich, was jetzt wohl in dir vorgeht. Du sitzt dem Schatten gegenüber - dem Mann, der deine Mutter, deine Geschwister und heute Nacht auch deinen Vater umgebracht hat.‘
Der Junge antwortete nicht, sondern betrachtete ihn mit einer Mischung aus Hass und Verzweiflung. Als Anosh ihn weiter anstarrte, glitt der Blick des Jungen zu Barde.
‚Was hast du mit ihm vor? Warum hast du ihn mitgebracht?‘, wollte der Kung’Sah wissen.
Anosh lehnte sich zurück und streckte seine Füße zum Feuer hin. ‚Ich werde dich heute Nacht verlassen, Barde. Und du wirst den Jungen mitnehmen, und ihm dienen. So, wie du mir gedient hast. Und wir werden sehen, welchen Weg er einschlägt.‘
‚Du meinst, ich soll ihn ausbilden? Wie ich dich ausgebildet habe?‘
Anosh sah auf seinen alten Weggefährten. Obwohl sich äußerlich sein Alter nicht bemerkbar machte, schien er müde und ausgelaugt.
‚Wenn er das will. Es wäre interessant zu sehen, wie er mit seinem Erbe umgeht.‘
Barde erhob sich und legte mehr Feuerholz nach. ‚Das ist eine merkwürdige Art, die Rache nicht aus deinem Herzen zu lassen.‘
‚Ich folge nur deinem Rat, Barde. So werde ich mich niemals leer und ausgebrannt fühlen.‘
Barde versorgte den Jungen, gab ihm zu essen und packte ihn in eine der dicken Pferdedecken. Als er sich wieder zum Feuer umdrehte, war Anosh verschwunden.
‚Er hat endlich gelernt, sich lautlos zu bewegen‘, flüsterte der Kung’Sah mit einem Lächeln, bevor er sich seinem neuen Schützling zuwandte.

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