Vor dem Gottesdienst

Text zum Thema Religion

von  Rudolf

Vor dem Gottesdienst hat Nepomuk es immer eilig. Immer gibt es etwas, was ihn daran hindert rechtzeitig loszugehen. Entweder er verschläft oder er muss schnell einen Begriff in der Wikipedia nachschauen, den er beim Lesen der kostenlosen Sonntagszeitung nicht verstanden hat, oder der Zeitungsartikel muss zu Ende gelesen werden oder der Kaffee ist zu heiß oder er muss die Schuhe erst auf der Terrasse finden oder sein Schlüsselbund hängt nicht am Schlüsselbrett oder der Kaffee treibt ihn auf die Toilette oder beim Nachschauen in der Wikipedia ist er auf einen Begriff gestoßen, der ihn schon immer wahnsinnig interessiert hat. Ist er an einem Sonntag (Ausnahmen bestätigen die Regel.) fertig angezogen und könnte rechtzeitig losgehen, kommt die kleine Prinzessin und bittet um Hilfe, da sie eine Aufgabe bei den Schularbeiten nicht versteht. Sonntag für Sonntag dasselbe Ritual, erst wenn die Glocken der Friedenskirche leise wahrnehmbar bereits das zweite Mal läuten, macht sich Nepomuk eilig auf den Weg. Allein, kleine Prinzessinnen finden Kirche langweilig. Und Sonntag für Sonntag nimmt er sich vor: „Nächste Woche werde ich zehn Minuten früher losgehen.“

Die Friedhofssatzung strapazierend (Jeder hat sich der Würde des Ortes entsprechend zu verhalten.) wenn nicht missachtend stürmt Nepomuk an den Grabreihen vorbei und ärgert sich über sich selbst. „Gott die Ehre geben. Einen Scheiß gebe ich, jeder Mist ist mir wichtiger als Gott!“

Die vier Glocken der Friedenskirche kommen näher, sodass Nepomuk sie am Klang unterscheiden kann. Als die letzte von ihnen verstummt, weiß Nepomuk, dass nun das Orgelvorspiel beginnt. Er schätzt ab, welchen Teil der Liturgie er heute verpassen wird. Am Zaun des Kirchengeländes hört er leise die Orgeltöne durch die Kirchenfenster. Ein paar Schritte weiter und er öffnet vorsichtig die leise knarrende Kirchentür und schleicht in den Kirchenraum, in dem das Orgelspiel gerade endet. Er blickt auf die Rücken der wenigen Gottesdienstbesucherinnen. In der ersten ansonsten leeren Stuhlreihe vor dem Altar die Pfarrerin (Eigentlich könnte man die erste Reihe weglassen, sie ist sowieso immer leer.). Dahinter mal paarweise mal weit getrennt, einzeln die Gläubigen, in sich versunken. Heute sind zwölf gekommen mit Nepomuk dreizehn. Er nimmt ein Gesangbuch vom Stapel neben dem Eingang und wählt einen Stuhl in der letzten Reihe. Nepomuk verneigt sich kaum wahrnehmbar vor dem Altar, vor Gott und wirft den Alltag ab macht sich leer, wechselt vom Modus Draußen in den Modus Drinnen. Die kommende Stunde dient Nepomuk seinem Gott. In der kommenden Stunde gibt er sich ganz seinen Wahnvorstellungen hin. Eine der 168 Stunden einer Woche gehört nur Ihm. In dieser Stunde, die die alte von der neuen Woche trennt, stellt Nepomuk sein Wollen und Drängen und Suchen und Entscheiden zurück. Kein Fernsehen, keine Wikipedia, keine Arbeit, keine Zeitung, keine kleine Prinzessin, kein Kaffee; dafür mystische Ruhe, Loslassen, Leere, Hören, gemeinsames Gebet, Eintritt in die kommende Woche.


Anmerkung von Rudolf:

100614, Genre von Geschichte in Text geändert

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Kommentare zu diesem Text

Songline (45)
(03.06.10)
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 Rudolf meinte dazu am 04.06.10:
Vielen Dank. Endlich mal jemand, der nicht gleich mit Grundsatzdiskussionen zur Existenz Gottes anfängt.

Beste Grüße
Rudolf
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