„…schland“. Public Viewing als Staatsbürgerpflicht

Satire

von  JoBo72

Einige schauen Fußball. Andere Deutschland.

WM. Es ist wieder soweit. Jede Kassiererin referiert über „totalen Fußball“ und der Bäcker, von dem man nur vier Brötchen wollte, erläutert mit diesen auf dem Glastresen ungefragt die Schwächen der deutschen Viererkette. Die Zahl der Fußballmetaphern in politischen Kommentaren überschreitet das Handelsdefizit Griechenlands. Oder die Zahl der Versuche, in NRW eine Regierung zu bilden. Ein Sommermärchen.

Für Jogis Jungs beginnt morgen die WM. Und alle schauen hin. Auch wenn der Gegner mit Australien – bei allem Respekt – nicht der spektakulärste ist. Bei diesen Gelegenheiten geht es auch weniger um den Fußballsport als vielmehr um das Phänomen „...schland“.

Schnell trennt sich beim Public Viewing die Spreu der Spektakelfreunde vom Weizen echter Fans.

Jene, die zwei Stunden vor Anpfiff in den Spiegel starren und mit allerhand Kosmetiktricks wahre Kunstwerke vollbringen, damit das Schwarze im Schweiße des Angesichts nicht ins Rote und Goldene läuft. Die sich gestern noch schnell was zum Um-den-Hals-hängen oder Auf-den-Kopf-setzen gekauft haben. Denen man vorher noch kurz sagen muss, dass „wir“ die Weißen sind. Damit es nicht peinlich wird. Und dass der Mann in der Mitte mit dem Mikro nicht Jogi ist, auch wenn er schwarz, rot oder gelb trägt. Goldgelb.

Echte Fußball-Fans grenzen sich von „...schland“-Fans deutlich ab. Sie sehen sich jede Wiederholung eines bedeutungslosen Zweitligaspiels an. Sie stellen sich bei strömendem Regen auf die baufällige Tribüne irgendeines brandenburgischen Verbandsligisten, um ein Vorbereitungsspiel ihrer Hertha zu sehen. Sie fiebern mit Oberligateams mit, von denen der Durchschnittsbürger nicht mal weiß, dass es sie gibt. Echte Fans kennen die Abseitsregel. Und ihre Geschichte, die kontroverse Debatte um ihre Abschaffung und die sieben wichtigsten Grenzfälle ihrer Anwendung. Sie wissen nicht nur, dass Beckenbauer ein Fußballspieler war, sondern auch sein Sohn. Sie können nicht nur die 54er-, 74er oder 90er-Elf runterleiern, sondern auch die Ersatzbank Fortuna Düsseldorfs vom Pokalfinale 1980.

Ich denke, ich bin ein echter Fan. Doch auch ich habe mich schon dabei ertappt, wie ich um 4 Uhr morgens aus patriotischen Gründen den olympischen Mannschaftswettbewerb im Dressurreiten verfolgt habe (Es ging gegen Holland, wir haben gewonnen.). Oder 12 Stunden Daviscup. Und warum gefällt mir Frauenrodeln? Richtig!

Ich habe also Verständnis für die „...schland“-Fans, die Public Viewing als ihre Staatsbürgerpflicht begreifen. Und sonst gar nichts. Lasst uns gemeinsam feiern. Nur eins noch: Bitte keine Fragen auf der Basis eines just angelesenen Halbwissens über den/die „6er“, Lionel Messi oder „Uweseelas“. Abseits ist, wenn der Schiedsrichter pfeift und wer die meisten Tore schießt, gewinnt. Mehr muss man nicht wissen. Ach, so: Das Runde ist der Ball.

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Kommentare zu diesem Text

kontext (32)
(12.06.10)
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