Jessicas Grab

Text zum Thema Friedhof

von  Rudolf

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Jessicas Grab
(von Rudolf)
Es gibt ein Grab, das Nepomuk besonders anzieht: Jessicas Grab. Es ist ein schönes Grab, selbst die kleine Prinzessin kennt es und auf manchen Spaziergängen fragt sie: „Papa, können wir nochmal gucken, wo das Grab ist?“ Nepomuk weiß dann, dass die Prinzessin Jessicas Grab meint.

Jessica wurde nur sechzehn Jahre alt. Die Zeitungen waren voll von den drei Jugendlichen, die tödlich am Aachener Kreuz verunglückten. Eine der drei Jugendlichen war Jessica. Sie war ein bildschönes Mädchen. Die Idealbesetzung für die Rolle des Engels mit strahlend blauen Augen und hellblondem Haar. Die Artikel waren voll aufrichtiger Trauer. Selbst die erfahrensten Redakteure der „Eichenheimer Zeitung“ waren geschockt. Das hatte es in Eichenheim noch nicht gegeben.
„Ein schwarzer Tag für Eichenheim“, wurde der Bürgermeister zitiert.
Erschrocken erkannten die Menschen, mit welcher Wucht das Schicksal unvorhersehbar brutal zuschlagen kann. Wenn sich Menschen über Jessica unterhielten, sah Nepomuk in den Gesichtern ängstliches Entsetzen. Grauen machte sich breit, wie unvermittelt ein Leben zu Ende sein konnte. Ein gesundes, aufgeblühtes, fröhliches Leben wurde von einem Augenblick auf den nächsten ausgelöscht. Kein Schulabschluss, keine Führerscheinprüfung, keine Lehre, keine Familiengründung, kein Leben dafür Tod.
„Wie kann Gott so etwas zulassen?“ Die Frage wurde oft wiederholt.
„Ich kenne die Tante. Es ist so traurig. So ein nettes Kind“, plötzlich steht eine Frau im grauen Mantel neben Nepomuk und erzählt, was nicht in der Zeitung stand. Ihr faltiges Gesicht ist von welligem Haar umrahmt, in dem graue Strähnen verlaufen. „Sie wollte an dem Abend gar nicht mehr ausgehen. Ihre Freunde haben sie überredet und sie ließ sich breitschlagen. Am Aachener Kreuz gab es einen Stau mit Stillstand. Da hatte sich ja gerade vorher schon einer tot gefahren. Die vier hielten mit ihrem Wagen an. Ihnen wäre gar nichts passiert. Aber dann kam dieser Idiot von hinten und raste mit hundertachtzig in das stehende Fahrzeug. Nur der Fahrer hat überlebt. Er hatte die Gefahr schnell genug erkannt und ist aus dem Auto gesprungen. Sie standen ja. Die drei anderen waren sofort tot. Nur der Fahrer hat überlebt - und der Raser.“

Nepomuk nickt stumm. Er möchte: „Wie traurig, das ist ja furchtbar“, sagen, aber über seine Lippen kommt kein Laut. Er weiß nicht, wie er Fremden gegenüber Emotionen zeigen soll. Darf er sanft eine tröstende Hand auf den Oberarm legen? Er steht mit gesenktem Kopf unfähig zu jeglicher Reaktion und blickt aus den Augenwinkeln zu der Frau im grauen Mantel. Er kann nicht in ihre Augen schauen, aber er hofft, dass sie auch ohne Worte, Gesten und Blicke versteht, wie sehr er mitfühlt.

Die Frau erlöst ihn mit einem: „Jetzt muss ich aber weiter.“ Sie gehen in entgegengesetzter Richtung auseinander, weg von Jessicas schönem Grab.

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