Über Humanismus, Kunst und Literatur oder Die Zweifel beim Schreiben

Essay zum Thema Schreiben

von  Momo

Wenn es unbestreitbar ist, dass es kluge und einfältige, gebildete und ungebildete Menschen gibt, dann ist auch die Definition von Literatur als die Gesamtheit aller schriftlich niedergelegten sprachlichen Zeugnisse zu akzeptieren, denn jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, sich in der Literatur zu spiegeln und wiederzufinden fern jeder Wertung.

Auch „Groschenheftchen“ wären unter dieser Definition zu finden, die manch einer unter seinem Bett deponiert wie ein anderer seine Pornos, Schund eben für viele, aber dennoch unverzichtbar für andere. Wer wollte darüber werten? Den Geschmack eines anderen Menschen bewerten zu wollen führt unmittelbar dazu, auch ihn zu bewerten, denn seine Neigungen spiegeln sich in seinen Ausdrücken und Vorlieben. Würde man diesen moralischen Maßstab, denn um nichts anderes handelt es sich, an der Qualität der kulturellen Angebote im breiten Medienspektrum zwischen TV und Zeitschriften/Zeitungen einerseits und der Häufigkeit ihrer  Nutzung andererseits messen, müsste man zu dem Schluss kommen, dass wir ein verkommener, ungebildeter Haufen sind, der die Veröffentlichung von Literatur und Filmproduktionen jeder Art daran misst, wie gut sie sich verkaufen lassen.

Neben dieser Sicht der Dinge gibt es einen Kulturbegriff, der sich über die Vorlieben der breiten Masse erhebt und versucht, Kultur und Kunst miteinander zu verbinden. Dieses Kunstverständnis könnte man vielleicht eher umschreiben mit der Suche nach der Wahrheit, mit der Suche nach der Menschlichkeit jenseits von Pragmatismus und Zeitgeist als Dienst am Menschen. Dieser Kunstbegriff ist absolut freit von Wertung und Einschränkung. Er nimmt sich jede Freiheit, um etwas sehen zu können, was vorher nicht sichtbar war, um es erfahrbar zu machen für sich und andere.
In diesem Sinne ist die Qualität von Kunst, ihre Substanz, nicht zu trennen von dem Wesen des Menschen, der sie schuf. Die Kunst liegt in den Dingen, sie ist ihnen niemals äußerlich.

„Unter Malern wie unter Schriftstellern gibt es solche, die ihrem Ziel auf den Versen bleiben … Malen ist lieben. Nur mit den Augen der Liebe sehen wir, wie der Maler sieht. Und seine Liebe ist überdies frei von Besitzansprüchen. Die Pflicht gebietet ihm, zu teilen, was er sieht. Zumeist lässt er uns sehen und empfinden, was wir für gewöhnlich ignorieren oder wogegen wir immun sind. Seine Art, sich der Welt zu nähern, sagt uns letzten Endes, dass nichts abstoßend oder scheußlich ist, nichts schal, flach oder ungenießbar. Sehen ist nicht nur hingucken. Man muss schauen. In etwas hinein … Die Kunst muss zeigen, was in der Welt vorgeht.“

Gestern sah ich eine Dokumentation über den Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, der ein großer zeitkritischer Schriftsteller und herausragender Humanist war, der sich Zeit seines Lebens nie scheute, seine Meinung frei und öffentlich zum Ausdruck zu bringen, selbst in einem Klima von Repression und Verleumdungen. In einem Tagesschau-Rückblick jener Zeiten der RAF wurde er als Person, seine öffentliche Meinung und Bücher als mitschuldig bzw. schuldig ausgemacht, dass diese den Boden geschaffen hätten auf dem jene ihre Gewalttaten planten und ausführten.
Ein wörtliches Zitat von ihm wurde verlesen: „… Reste verfaulender Macht, die mit rattenhafter Wut verteidigt wird.“

Diese Worte stehen vor dem Hintergrund der Beschneidung der Pressefreiheit, der Inhaftierung des Spiegelredakteurs und Herausgebers Rudolf Augstein, der Durchsuchung von Redaktionsräumen und der Hausdurchsuchung bei Heinrich Böll, Beschattung und Abhörung seiner Privatsphäre neben der Diffamierung seiner Person und seines literarischen Ansehens.

Hier wird deutlich, wohin es führen kann, wenn starres und verkrustetes Denken und ihre ausführenden Organe auf freiheitlich ausgerichtetes, humanitäres Denken trifft.

Man sollte dem Literaturbegriff seine Offenheit und Freiheit lassen und jedem Menschen seine Art von Literatur zugestehen, ohne ihn mit einem Stempel zu versehen.
Ob etwas gut oder schlecht ist, anerkannt wird oder nicht, hängt in erster Linie von der stillschweigenden Übereinkunft der jeweiligen Gesellschaft ab, die wiederum nicht getrennt vom jeweiligen Zeitgeist zu sehen ist.

Wir stehen jetzt an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, das das herkömmliche Denken hinter sich lassen wird und eine Bereitschaft fordert, sich Neuem zu öffnen.


Anmerkung von Momo:

"… (Literatur) dient der Bestätigung. Sie glaubt vor allem an sich selbst. Ihr Publikum glaubt an sie und damit auch an sich selbst. Diese Literatur bestätigt: Alles ist gut, solange alles beim alten bleibt. Dazu gehört der gewährte Spielraum, die genau garantierte Narrenfreiheit, die kühn aufgemachten Sprach-Expeditionen in elegante oder attraktiv üble Sackgassen … Reibereien gibt es nur noch mit Minderheiten, die in ihrer speziellen Rückständigkeit allen anderen das Empfinden verschaffen, voraus zu sein.

So wie diese Literatur jetzt ist, gehört sie zum Großbürgertum. Dazu gehören übrigens sehr viele Leute, die wirtschaftlich gar nicht großbürgerlich fundiert sind. … Zu Stützen bürgerlicher Gesellschaft werden sie durch ihre Talente, die in dieser Gesellschaft besonders erwünscht sind. Sie denken an sich, also denken sie liberal; sie sind phantasievolle Gesellschafter, geistreich und entspannt, sie riechen nicht muffig, kurzum: man kann Staat machen mit ihnen. Hofstaat. Narren, Vergolder, Beichtväter, Hofprediger und Kammersänger. … So ist es jetzt und es bleibt so? Oder wäre es doch noch vorstellbar, dass wir gerade an dem zweifelten, was als ganz sicher gilt? … Es wäre allerdings sinnlos, so etwas als Forderung zu denken, wenn rundum alle vor Sicherheit strotzten. Da aber eher ein schwankender Berufsglaube nervös verteidigt wird, eine etwas bodenlose Losgelöstheit beansprucht wird, darf man annehmen, dass wir unsere Zweifel haben … Jeder der Günstling eines Günstlings. Das ist eine milde Sphäre. Da herrscht ein angenehmer Sprachgebrauch. Schöpferisch heißt man da und so weiter. Der Schreiber, der noch beim Schreiben zweifelte, wäre für alle Verabredeten eine Beunruhigung. …
Das erste Positive: Der Schreiber kümmert sich endlich ganz um sich selbst, und wenn er sich aus dem Sattel gehoben hat, stellt sich heraus, dass er alle mitriss, die im Sattel saßen. Das ist sicher eine Utopie. …"

aus: Zweifel beim Schreiben, Martin Walser, Erfahrungen und Leseerfahrungen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1965, S. 95-98

Henry Miller, Bilder und Texte, Berlin, Limes 1988

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