Bleistiftspuren im Herzen

Brief zum Thema Abschied

von  ZornDerFinsternis

Du sagst, ich würde dir nicht zuhören. Wäre ungerecht.
Dabei bist du es, an der meine Worte abprallen. Bei der sie kein Gehör finden.
Wenn ich sage, "Ich will nicht mehr leben.", belächelst du diese Worte bloß.
Wenn ich weine, regt sich bei dir kein Gefühl. Kein garnichts.
Selbst, wenn ich mir vor deinen Augen die Pulsadern aufschneiden würde, würdest
du wahrscheinlich bloß stumm dortstehen und mich belächeln.
In dieser hässlichen Art und Weise, mit dieser scheiss Gleichgültigkeit, wie
du sie in den letzten 19 Jahren immer an den Tag gelegt hast.
An allem trage stets ich die Schuld. Daran, dass dein letztes Kind, ich, ein Mädchen bin.
In deinen Augen, schon immer reines Unglück. Und jeden Tag, hast du mir dieses Gefühl mit
auf den Weg gegeben. Vielleicht nicht immer offensichtlich, bewusst oder verbal. Aber es war da.
Und, es ist immer noch da.
Statt einem Brot für den Kindergarten, einer "Wir-sehen-uns-später-Schatz"-Umarmung, gab es
immer bloß die kalte Schulter. Dein versteinertes, altes, runsliges Gesicht.
Und ich hätte lieber jede herzlose Hexe zur Mutter gehabt, als dich.
Manchmal, da wünschte ich mir, ich könnte noch einmal bei Null anfangen. Als kleines, noch nicht
vollständiges Leben in dir anfangen. Mit dem Wissen von heute. Vielleicht, ohne diese ganzen
schmerzlichen Bilder und Erinnerungen. Ohne die Narben von Vorgestern. Ohne diese seelische und
körperliche Abhängigkeit nach Nikotin und einem winzigen Krümel Liebe.
Ja, vielleicht wäre dann dieses Leben ein Stück weit einfacher. Orde, zumindest, ein wenig leichter
zu (er)tragen.
Hast nie zugehört, wenn mein Herz geweint hat. Nur immer dieses felsige Antlitz, das kälter war, als die Nacht.
Dieses eisige Lächeln, auf Lippen, die nie ein freudiges Wort in meiner Gegenwart verloren haben.
Habe angefangen, dich aus meinem Leben zu radieren. Aber, wie das nunmal so ist, wenn man mit stumpfen
Bleistift zeichnet. Feststellt, dass man Fehler gemacht hat, und versuchen will sie auszubessern - das Papier
wird nie mehr so strahlend weiß und unschuldig aussehen.
Und irgendwie, hast du genau das mit meiner Seele gemacht. Immer zu viel verlangt. Erwartet.
Zu wenig geliebt. Beschützt. Beachtet.
Ich kann es dir nichtmal verübeln, ich hätte das Gleiche mit mir getan. Bin ich doch bloß ein verachtenswerter
Haufen Mensch. Müll, den niemand braucht.
Und, in den Jahren, die der Schmerz an meinem Kinderbett gesessen und mich in den Schlaf geschrien hat,
habe ich meinem Herzen beim Zerspringen zugesehen. Und, irgendwie, macht mich das heute glücklich.
Ja, dieses abgestumpfte Herzwrack, das so jämmerlich zappelt und verbissen versucht, mich am Leben zu halten...
dieses Leid, das mit jeder Minute durch mich rinnt, es macht mich glücklich.
Habe doch nie gelernt, etwas anderes zu empfinden. Und ja, es macht mich wirklich glücklich.
Denn, diese Gleichgültigkeit; diese Leere in meinem Innern, ist mein einziger Überlebensdrang.
Und heute, blicke ich auf alles zurück. Es fällt mir nicht schwer, loszulassen. Vermissen werde ich nicht können.
Du hast mich zu dem gemacht, was ich bin. Ein gefühlloses Wesen, das nicht vertrauen kann. Sich vor Wärme
und anderen, liebevollen Gefühlen fürchtet. Weil sie etwas fremdes, beunruhigendes sind.
Ja, ich habe nichts. Niemanden mehr. Nur die Einsamkeit. Und mich. Einsamkeit plus ich zum Quadrat.
Was dabei rumkommt kann ich nicht sagen. Zumindest, kann ich es nicht in Zahlen ausdrücken.
Vermutlich, sogar sehr gewiss, wird es bedeuten, dass bald das Ende naht. Und es regt sich nichts in mir.
Mein Herz sieht exakt so aus, wie dein steinernes Gesicht. Da ist kein Platz für jegliche Gefühlsregung.
Gerademal genug Erfahrung, um mich zu verachten. Zu wissen, dass dieses Leben, vorallem aber ich, wertlos bleibe.
Ganz gleich, wessen Augen ich auch ansehen würde, es würde niemanden geben, der sie lieben könnte.
Den Schmerz, den du in meine Seele eingebrannt hast, konnte niemand entfernen.
Weder der Alkohol, noch die Prügel von Menschen, von denen ich einstmals geglaubt, oder vielleicht auch nur gehofft
hatte, dass es "Freunde" sind.
Und ich weiß, ich werde dir das Stück heile Welt wieder zurückgeben können, wenn ich gehe. Wenn ich dich nicht
mehr jeden Tag an den Verlust deines heiligsten Traumes, erinnern werde.
Ja, und vermissen brauchst du mich (auch) nicht. Schließlich, kenne ich seit 12 Jahren dein Denken darüber,
dass ich lebe.
Hatte gehofft, bis zu letzt, du könntest dich mit den Umständen abfinden. Mir ein wenig Zuneigung schenken, wenn
Liebe, für dich, schon immer unmöglich war.
In so fern, ist es doch am besten, wenn ich verschwinde. War eh niemals Kind gewesen. Gestern nicht, heute nicht und vor 19 Jahren, bin ich es auch nicht gewesen.
Lieben kann ich nicht. Niemanden.
Und ich weiß, die Spuren die ich nicht hinterlassen werde, werden dich auch nicht kümmern.
So sage ich "Lebewohl, Mutter". Zu einer mir völlig fremden Frau, mit der ich 19 Jahre lang Leben und Haus geteilt
habe. Und, obwohl dieser Abschied so endgültig ist, empfinde ich nichts.
Eigentlich müsste ich dir danken. Aber ich frage mich wofür. Mutter?

Danke für nichts.

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Kommentare zu diesem Text

seelenliebe (52)
(01.08.10)
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 ZornDerFinsternis meinte dazu am 01.08.10:
Eine liebevolle Umarmung, in tiefer Dankbarkeit, liebe Anne
SigrunAl-Badri (50)
(01.08.10)
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 ZornDerFinsternis antwortete darauf am 01.08.10:
Ich danke dir für deine so herzlichen, ehrlichen Zeilen. Die mich so oft aufblühen lassen. Ich danke dir, Liebes.
Diro (50)
(01.08.10)
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 ZornDerFinsternis schrieb daraufhin am 01.08.10:
Diro, ich danke dir ebenfalls. Von Herzen. Hab' vielen Dank. Anni

 Dieter Wal (02.08.10)
 Rammstein: Mutter

Die Tranen greiser Kinderschar
ich zieh sie auf ein weisses Haar
werf in die Luft die nasse Kette
und wunsch mir, dass ich eine Mutter hatte

Keine Sonne die mir scheint
keine Brust hat Milch geweint
in meiner Kehle steckt ein Schlauch
Hab keinen Nabel auf dem Bauch

Mutter

Ich durfte keine Nippel lecken
und keine Falte zum Verstecken
niemand gab mir einen Namen
gezeugt in Hast und ohne Samen

Der Mutter die mich nie geboren
hab ich heute Nacht geschworen
ich werd ihr eine Krankheit schenken
und sie danach im Fluss versenken

Mutter

In ihren Lungen wohnt ein Aal
auf meiner Stirn ein Muttermal
entferne es mit Messers Kuss
auch wenn ich daran sterben muss

Mutter

In ihren Lungen wohnt ein Aal
auf meiner Stirn ein Muttermal
entferne es mit Messers Kuss
auch wenn ich verbluten muss

Mutter
oh gib mir Kraft

Liebe Anni,

dieser symbolische Text spielt mit dem Archetyp der Mutter. In diesem Fall in Form einer Mutter, die der beschreibende Mensch eigentlich nie erlebt hat, weil er nämlich nicht von ihr auf die Welt gebracht wurde, sondern im Brutkasten embryonal ausreifen durfte. Die Mutter dieses Songs scheint gar vor der eigentlichen Geburt des Babys gestorben zu sein. Ich liebe dieses Lied. Die Mutter deines Textes, von der du schon öfter geschrieben hast, blieb emotional kalt. Welche Störung da vorlag, bleibt im Dunkeln. Sie hat nichts mit dem Kind zu tun, auch wenn man eine solche Mutter als Kind schuldhaft erlebt, denn ein Kind möchte sich erklären, warum die Mutter lieblos und emotional unbeteiligt blieb. Das kann es nicht. Das hinterlässt Wunden, die zu heilen eine fast unüberwindbare Arbeit darstellen dürfte. Aber nach meiner Erfahrung gibt es Mittel und Wege, ein gesundes Leben erlangen und führen zu dürfen. Steinige Wege. Aber absolut lohnenswerte, denn ich finde dich, liebe Anni, wirklich liebenswert.

Herzlich
Dieter
(Kommentar korrigiert am 02.08.2010)
Manu (56)
(02.08.10)
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 ZornDerFinsternis äußerte darauf am 02.08.10:
Lass dich umarmen, liebe Manu. Mein Herz flüstert dir ein leises Danke in die Nacht. Anni
Innocentia (18)
(11.08.10)
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 ZornDerFinsternis ergänzte dazu am 11.08.10:
Das macht mich mehr als betroffen... lass dich umarmen, auch, wenn ich kein Baum bin -knuddel-
Innocentia (18) meinte dazu am 11.08.10:
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 ZornDerFinsternis meinte dazu am 11.08.10:
Du doch auch, Süße -knuddel- Du doch auch :)
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