Kickerkönig

Roman zum Thema Veränderung

von  Mutter

„Und die Hamburg-Geschichte?“, fragt Manu. Meine schlechte Stimmung scheint sie nicht weiter zu berühren.
Irritiert frage ich: „Was meinst du?“
„Du hast mir erzählt, dass Tiger damals in Hamburg war. Die Sache, die Dombrowski …“
„Jaja, ich weiß wovon du redest“, unterbreche ich sie. „Und?“
Sie lächelt, nicht im Geringsten beeindruckt von meiner brüsken Art. „Du hast gesagt, dein alter Kollege sei damals beteiligt gewesen - damit Tiger überhaupt nach Hamburg konnte. Richtig?“
„Richtig. Chris.“ So langsam geht mir ein Licht auf, worauf sie hinaus will.
„Vielleicht können wir mit ihm nochmal reden. Möglicherweise weiß er noch, bei wem Tiger damals gearbeitet hat. Wo haben die Kids gewohnt?“
„In Hamburg? Keine Ahnung“, antworte ich, obwohl ich weiß, dass die Frage rhetorisch gemeint war. Ich nicke. „Okay. Lass uns da vorbeifahren.“ Nicht mal ihr triumphierendes Lächeln nehme ich ihr übel – sie hat Recht. Ich sollte froh sein, sie dabei zu haben.
Wir setzen uns die Helme auf und sie klettert hinter mir auf den Sozius. Ich merke, wie ich mit halb-angehaltenem Atem auf ihre Umarmung warte. Und lächle, als sie endlich kommt.
Auf dem Weg zum Jugendheim frage ich mich, ob es schlau gewesen wäre, anzurufen. Zu checken, ob Chris heute arbeitet. Aber eigentlich ist es mir egal, ob der Weg umsonst ist. Ich genieße es, mit Manu zusammen zu fahren, gebe mich der Illusion hin, dass ich mich auf ein echtes Ziel hinbewege.

Diesmal parke ich direkt vor dem Haus. Ich finde es zwar immer noch etwas merkwürdig, hierher zurückzukommen, aber noch unwohler würde ich mich fühlen, wenn ich Manu das zeigen würde. Schätze, das ist mein Stolz, der mich da treibt.
Wir gehen zusammen rein und ich klopfe am Büro. Eine Frauenstimme bittet uns herein. Ich nehme an, das ist Anna.
Am Schreibtisch Chris gegenüber sitzt eine Blondine, die langen Haare in einen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie ist vielleicht Ende Zwanzig, eher jünger. Ich bin tatsächlich überrascht, dass sie mit unseren Jungs fertig wird.
„Ja bitte?“
„Luca Monteleone – ich bin auf der Suche nach Chris. Arbeitet der heute?“
„Ja, der ist in der Halle.“ Sie will vom Tisch aufstehen, wahrscheinlich, um uns den Weg zu zeigen. Ich halte sie mit erhobener Hand zurück. „Vielen Dank, aber ich kenne mich aus“, sage ich ihr mit einem Lächeln.
Sie ist kurz irritiert, nickt dann aber und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. Ich schließe die Tür hinter uns und führe Manu den Flur hinunter, an einer Treppe vorbei.
„Wo geht es da hin?“, fragt sie und zeigt nach oben.
„Da sind Werkräume, ein Schulungsraum und die große Mehrzweck-Aula. Da drin finden die legendären Tanz-Abende statt“, erkläre ich mit einem Augenzwinkern.
„Uih, Disko. Fett!“
Durch eine weitere Glastür kommen wir in den Raum, der die „Halle“ genannt wird und den größten Teil des Erdgeschosses einnimmt. Hier stehen Tische und Stühle, an denen vereinzelt Jugendliche sitzen und schreiben, oder lesen, und Regale mit verschiedenen Brettspielen. Hier unten befinden sich auch die beiden Kicker-Tische, an denen gerade lautstark gespielt wird. Die massiven Billardtische stehen dagegen verlassen da. Aber alleine ihre Anwesenheit erfüllt mich mit Zufriedenheit – Chris hatte sich damals dafür eingesetzt, die dicken Brocken loszuwerden. Die Queues seien zu gefährlich weil quasi Waffen, die Bälle kämen dauernd weg und der Filz würde durch ignorantes Verhalten über kurz oder lang zerstört werden. Ich hatte ihn ausgelacht – hier verschwand nach kürzester Zeit alles, was nicht kaputtging. So ist das eben in solchen Einrichtungen. Meine Vermutung war damals, dass Chris die Tische nicht mochte, weil ich ihn immer im Billard schlug – er machte mich dagegen regelmäßig beim Tischfußball nass. Der Kickerkönig.
Chris ist Teil einer Vierer-Gruppe, die gerade kickert und hämmert einen Ball mit lautem Krachen ins gegnerische Tor.
Als wir uns nähern, berührt ihn einer der Jugendlichen an der Schulter, zeigt auf uns. Mich kennt hier niemand mehr, aber die Kids reagieren absolut allergisch auf Eindringlinge in ihrem Reich. Da erwacht sofort das Misstrauen.
Chris sieht mich und lächelt. Immerhin. Er macht eine Bewegung in Richtung Tisch und gibt einem der Umstehenden zu verstehen, für ihn zu übernehmen.
„Hey Luca“, begrüßt er mich. Anders als bei meinem letzten Besuch mache ich mir diesmal nicht die Mühe, ihn zu umarmen und schüttle die Hand, die er mir entgegenstreckt. Sein Blick ist bereits auf Manu gerichtet.
„Das ist Manu - eine Freundin.“ Chris kannte Luisa kaum und ich bin froh darüber, die Familienähnlichkeit nicht erklären zu müssen.
Chris sieht sich kurz um und kontrolliert, dass sich keiner der Jugendlichen in Hörweite befindet. Dann sagt er: „Die Bullen waren kurz nach dir hier. Haben die Kids ganz schön aufgeschreckt – ging die ersten ein, zwei Tage danach zu wie in einem Wespenschwarm.“
„Glaub ich sofort.  Aber von Tiger hast du nichts gehört, oder?“ Dankbar stelle ich fest, dass er auch die Tatsache, dass er vermutlich inzwischen längst weiß, warum Tiger gesucht wird, nicht erwähnt. Sein Beileid für sich behält.
„Nein. Sonst hätte ich mich gemeldet, habe ich dir doch versprochen.“
Ich nicke – und glaube ihm. „Hast du eine Minute für uns? Können wir uns kurz draußen unterhalten?“
„Sicher.“ Er geht uns voran durch die Halle. Wir folgen ihm nach draußen, über den Waschbetonplatten-Weg und er bleibt kurz an meinem Bike stehen, während er sich eine Zigarette anzündet. Mit einem Grinsen sagt er, während er den Rauch ausbläst: „Du fährst immer noch den gleichen Bock. Wolltest du nicht damals schon auf eine Ducati umsteigen?“
Ich zucke mit den Schultern. „Ich habe immer gesagt: Sobald ich die Kohle habe, hole ich mir eine Ducati. Bis jetzt ist es noch nicht so weit.“
„Verstehe.“ Auf einmal scheint ihm seine Bemerkung unangenehm zu sein.
Ich wechsle das Thema, um es ihm leichter zu machen. „Pass auf – von der Polizei wissen wir von dieser Sache in Hamburg. Mit Tiger“, ergänze ich, obwohl es vermutlich unnötig ist.
Mir wird klar, dass ihm dieses Thema vermutlich noch unangenehmer ist. Aber darauf kann ich leider keine Rücksicht nehmen.
Als er nicht antwortet, fahre ich fort: „Hör zu, Chris, niemand macht dir einen Vorwurf. Ich schätze, ich hätte damals genauso gehandelt. Tiger war einer von denen, die eine Chance verdient hatten. Und die Bullen wissen es ohnehin schon – nichts, was du uns jetzt sagst, bringt dich also in weitere Schwierigkeiten. Das bleibt unter uns – in Ordnung?“
Zögernd nickt er. „Also gut. Was wollt ihr wissen?“
Zu meiner Überraschung ist es Manu, die ihm antwortet. „Bei wem hat er damals gewohnt?“
„Familie Kellermann oder so. Ich habe die Daten noch in einem Ordner im Büro. Wir können gleich drinnen nachschauen. Die Bullen wollten dasselbe wissen.“
„Was ist damals passiert? Um was für ein Projekt hat es sich gehandelt?“
Chris fährt sich durch die Haare, als macht es ihm Schwierigkeiten, sich zu erinnern. „Es war ein sechswöchentlicher Arbeitsaufenthalt. Wir haben den Kids die Jobs gesucht, ihnen Familien organisiert, bei denen sie bleiben konnten und die Fahrten geregelt. So eine Art Praktikum.“
„Wo hat Tiger gearbeitet?“
Während sie Chris die Fragen stellt, beobachte ich Manu. Ich bin mir nicht sicher, ob mich die Tatsache, dass sie das Gespräch derart selbstbewusst übernommen hat, nervt, oder ob es mich freut. Ich entscheide mich dafür, dass ich ihre Beteiligung begrüße.
„Er hatte einen Job im Großmarkt. An einem der Blumenstände. Ätzender Job, der mitten in der Nacht anfängt, aber das schien ihm nichts auszumachen.“
„Und dann?“
„Er ist nach vier Wochen einfach abgehauen. Ist nachts statt zum Großmarkt einfach weg und hat sich nie wieder bei seiner Gastfamilie gemeldet. Bei mir auch nicht. Die Kellermanns oder wie auch immer haben mich damals angerufen, aber ich konnte ihnen auch nichts sagen. Hier im Jugendzentrum ist Tiger auch nie wieder aufgetaucht.“

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram