Schellstädter

Roman zum Thema Unruhe

von  Mutter

Es kommt mir endlos lange vor, wie wir dort draußen vor der Tür warten. Ich habe das Gefühl, ich hätte längst ein zweites Mal klingeln müssen, um ihn zur Tür zu zwingen, aber etwas hält mich zurück. Als könnte ich das laute Geräusch der Klingel nicht nochmal ertragen. Wahrscheinlich bekommt Schellstädter nicht oft Besuch, so dass er davon meistens verschon bleibt, denke ich lakonisch.
Auf der anderen Seite der Tür sind Schritte zu hören, und dann knallen mehrere Riegel oder Schlösser zurück. Die Tür öffnet sich genau in dem Moment, wo das Licht im Treppenhaus mit einem Klick-Laut ausgeht. Wir stehen vor der halboffenen Tür, in den Lichtkegel aus Schellstädters Flur getaucht.
Unerwarteter, nächtlicher Besuch scheint ihn nicht zu ängstigen – er hat die Tür weit geöffnet, steht entspannt dort in einer Adidas-Trainingshose und einem T-Shirt. Er ist einen Kopf kleiner als ich, etwas über eins achtzig, würde ich schätzen. Man kann sehen, dass er früher ein kräftiger Mann gewesen sein muss – immer noch breite Schultern, und die langen Arme großer Stärke. Aber die Zeit hat nicht mehr viel von ihm übriggelassen, jetzt ist er nur noch ein alter Mann. Wie ein Stück Küste, das im Laufe der Zeit von einer unermüdlichen See weggenagt worden ist. Seine Nase ist in diesem Leben bestimmt öfter gebrochen worden, und über seinem rechten Auge verläuft eine alte Narbe, die ihn aussehen lässt, als würde er permanent verwundert die Augenbraue heben. Der Rest seiner Miene sieht dagegen unwirsch und missmutig aus. „Was gibt’s?“, grollt er uns an. Seine Stimme klingt, als könne er damit problemlos atmosphärische Hörspiele einsprechen.
„Sind Sie Herrmann Schellstädter? Können wir kurz hereinkommen?“, frage ich. Höflich und neutral, aber bestimmt.
„Was wollen Sie?“ Sein Gesicht verdüstert sich um weitere paar Grad. Manu drückt erneut den Schalter und das trübe Licht der Deckenlampe gesellt sich zu der Helligkeit aus seinem Flur.
„Können wir das nicht vielleicht drinnen besprechen?“
„Nein“, kommt es kurz und trocken zurück. Auch gut, denke ich. Sind ja nicht meine Nachbarn, die irgendwann neugierig den Kopf aus der Tür stecken. Wobei – wenn das hier wirklich so ähnlich ist wie Neukölln interessiert so ein Gespräch nachts im Treppenhaus womöglich niemanden.
„Kennen Sie einen jungen Mann namens Tiger?“ Gespannt beobachte ich sein Gesicht, lauere auf jede Reaktion. Aber da zeigt sich nichts.
„Nein, kenne ich nicht. War’s das?“
Ich schüttle den Kopf. „Vielleicht kennen Sie ihn unter dem Namen Lucien Lefevre.“
„Nein, tut mir leid. Gute Nacht!“ Er macht eine Bewegung, um sich zurückzuziehen und die Wohnungstür zu schließen. Meine Hand schießt nach vorne, mit der Handfläche klatsche ich gegen die Tür. „Moment, bitte.“
Über sein Gesicht zuckt eine Emotion, die ich aus meiner Zeit als Türsteher kenne – bei Jungs, die kurz davor sind, handgreiflich zu werden. Von Cholerikern, die eine kurze Lunte besitzen und bei der kleinsten Provokation in die Luft gehen.
„Wir wissen, dass Sie bei Familie Keller hier in Hamburg angerufen haben, um sich Tiger zu erkundigen. Familie Keller – sagt Ihnen das was?“
Sein Blick wandert zu meiner Hand auf meiner Tür. Ich weiß, dass er darüber nachdenkt, mir die Fresse zu polieren. Sie mit Gewalt zuzuschlagen, um mich loszuwerden. Und immer noch zeigt sich kein Wiedererkennen, kein Funken von Reaktion in Bezug auf die Namen – als würde er von Tiger und den Kellers tatsächlich zum Ersten mal hören. Ich glaube ihm kein Wort.
Offenbar hat er sich gegen die Gewalt entschieden. Gedehnt antwortet er: „Hören Sie zu, ich kenne diese Leute nicht. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.  Es ist spät – bitte gehen Sie jetzt.“
Bevor ich noch etwas sagen kann, macht Manu einen kleinen Schritt nach vorne. „Haben Sie in der Fremdenlegion gedient? In Frankreich?“
Diesmal zeigt sich ein Anflug von Überraschung auf seinen zerknitterten Zügen, aber das beweist natürlich nicht viel. Mein Opa wäre genauso überrascht, wenn ihm junge Leute diese Frage nachts um halb elf stellen würden.
Er schüttelt den massigen Schädel. „Ich war Anfang der Siebziger bei der Bundeswehr. Zeitsoldat. Warum?“
Weder mir noch Manu fällt auf diese Frage eine kluge Antwort ein – bevor ich reagieren kann, schiebt Schellstädter die Tür mit Druck und zu. Das Klacken des Schlosses beendet  mit seiner Endgültigkeit  unser Gespräch. Erneut verglüht das Flurlicht - wir stehen im Dunkeln.
Trotzig will ich mit der Faust gegen das Holz hämmern, aber eine Berührung von Manu am Arm hält mich zurück. „Komm“, flüstert sie und zieht an mir.
Bevor wir die Treppe heruntergehen, drückt sie ein weiteres Mal auf den in Rot schimmernden Lichtschalter.
„Ich glaub ihm kein Wort“, presse ich aufgebracht zwischen den Zähnen hervor. Sie legt mir eine Hand auf die Schulter, während sie hinter mir herkommt. Ich interpretiere die Geste, dass ich Geduld haben soll. Ich bemühe mich – bis wir wieder im Auto sitzen. Die Tür klappt zu und ich sage: „Der Arsch! Wir wissen doch, dass er bei den Kellers angerufen hat.“
Sie lässt mich Dampf ablassen, antwortet nicht. Beobachtet in der Zeit aufmerksam den Hauseingang.
Als ich eine Pause mache, wendet sie sich mir zu und fragt mit einem Lächeln: „Fertig?“
Ich muss ebenfalls grinsen. „Schätze schon.“
„Gut. Ich bin froh, dass er alles geleugnet hat.“
„Ach ja?“
„Stell dir vor, er hätte uns eine vernünftige Erklärung angeboten, warum er bei den Kellers angerufen hat. Irgendwas, was nichts mit Tiger zu tun hat. Was uns nicht weiterhilft. Hätte dich das zufriedener gemacht?“
Ich mache mir nicht die Mühe, auf die rhetorische Frage zu antworten. Sie fährt fort: „So wissen wir, das er was zu verbergen hat. Wir haben zwar keine Ahnung, was, aber wir setzen an der richtigen Stelle an. Sie zuckt mit den Achseln. „Den Rest finden wir auch noch heraus“, entscheidet sie.
Für den Moment bin ich zufrieden, ihrer Selbstsicherheit die Führung zu überlassen. „Wie machen wir jetzt weiter? Wie kriegen wir die Wahrheit aus ihm heraus?“
Mit einem Lächeln gibt sie zu: „So weit bin ich noch nicht. Gib mir etwas Zeit – ich knobel uns was aus.“ 
Aber so schnell fällt ihr nichts ein. So sitzen wir im Dunkeln da, bis ich endlich sage: „Ich habe Hunger. Was ist mit dir?“
Statt zu antworten, deutet sie nach vorne. „Was?“, frage ich.
„Schellstädter.“
Ruckartig rutsche ich im Sitz nach oben, um besser sehen zu können. Sie hat Recht – es ist der alte Mann. Er trägt immer noch die gleiche Trainingshose, hat sich aber eine dazu passende Sportjacke übergeworfen.
„Wir müssen hinterher – zu Fuß oder mit dem Wagen?“
Während er weiter die Straße entlanggeht, überlege ich fiberhaft. Das Auto wäre nur schlauer, falls er irgendwo in einen eigenen Wagen steigt. Bleibt er zu Fuß oder nimmt die Öffentlichen, nützt uns der Clio überhaupt nichts.
„Los“, sage ich und öffne die Wagentür - Manu ist zeitgleich mit mir draußen. Im Weggehen lasse ich die Zentralverriegelung zuschnappen. Ausgelassen haut sie mir auf die Schulter, und wir traben eine Weile nebeneinander her, um zu Schellstädter aufzuschließen. Vielleicht stimmt es – und sie ist wirklich ein Dirty-Ersatz.
Der alte Mann verschwindet bereits um eine Ecke – wir beschleunigen das Tempo, bremsen vorher aber ab, um nicht zu überstürzt dort herumzuschießen.
Schellstädter ist zweihundert Meter weiter vorne – und betritt eine Kneipe.

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