Morgengrauen

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

Wir erreichen Berlin um kurz vor vier – parken das Auto, stolpern nach oben. Zähneputzen fällt aus. Ich bringe Manu noch bis zur Schlafzimmertür und drücke sie. Will ihr Gute Nacht wünschen. Stattdessen fragt sie: „Bringst du mich ins Bett? Halt mich noch eine Weile – mir ist kalt.“
Mein erster panikerfüllter Reflex ist es, nein zu sagen. Ihr die Stirn zu küssen und mich aufs Sofa zu verziehen. Aber sie kommt mir so müde und erschöpft vor, dass sie fast durchscheinend aussieht. Ich bringe es nicht übers Herz, einfach den Kopf zu schütteln. Also nehme ich sie an der Schulter und führe sie zum Bett. Setze mich auch die Kante, während sie sich hinter mir umzieht. 
Ich höre das Knarren, als sie sich hinter mir setzt, spüre ihre Hand auf der Schulter. Und lasse mich von ihr aufs Bett ziehen. Nehme sie in den Arm, indem ich mich hinter sie lege: Ein Arm unter ihrem Kopf, einen um ihre Hüfte. Sie ist fest in ihre Decke gewickelt.
„Danke schön“, flüstert sie. Ich nicke bloß. Rieche ihre Haare, in denen ich fast mein Gesicht habe. Ein Gesicht, in dem ich die Augen fest zusammengepresst halte, als könnte ich so verhindern, dass die Tränen kommen. Genauso habe ich hinter Luisa gelegen, das letzte Mal, als ich sie lebend gesehen habe. Ich schüttle Manu mit, als die heftigen Schluchzer kommen. Sie ergreift einfach nur meine Hand, schiebt ihre Finger zwischen meine. Hält mich so fest, dass es fast weh tut. Und irgendwann geht der andere Schmerz wieder -  der, der sich von so tief drinnen auf brutale Art und Weise einen Weg nach außen gräbt.
Ich bemerke nicht mehr, wer von uns beiden zuerst einschläft.

Beim ersten Licht löse ich mich langsam von ihr. Noch eine Erinnerung an ihre Schwester, aber diesmal ist es nur eine leichte Wehmut, die mich befällt. Vielleicht bin ich einfach zu erschöpft. Vor Müdigkeit schmerzen meine Glieder wie nach einer Grippe, und meine Augen fühlen sich wund und roh an. Manu rollt sich auf den Bauch, als ich meinen eingeschlafenen Arm vorsichtig befreie und das Blut zurück in ihn massiere.
Leise schließe ich die Schlafzimmertür hinter mir und gehe ins Wohnzimmer. Dort liegt mein Handy. Ich nehme es auf, rufe das Adressbuch auf. Lege das Telefon wieder hin und gehe mir die Zähne putzen. Als würde ich für ein Telefonat mit Frank frischen Atem brauchen. Aber nachdem ich bereits in meinen Klamotten geschlafen habe, möchte ich wenigstens den üblen Geschmack im Mund loswerden.
Es klingelt zweimal, dann nimmt er an. „Morgen Luca. Alles frisch?“ Er klingt ausgeschlafener als ich mich fühle.
„Geht so - ging mir schon besser. Hast du was?“
Ich höre, wie er von etwas abbeißt und kaut. Mein Magen knurrt. Dann antwortet er, immer noch mit halbvollem Mund: „Clemens ist mit einem Kollegen seit halb fünf vor Ort. Er meinte, er meldet sich, wenn sich dort was tut. Laut Aussage von dem Typ an der Rezeption ist unser Mann im Moment dort.“
„Woher wissen wir, welches unser Mann ist?“
„Wenn das Datum, was du mir durchgegeben hast, stimmt, gibt’s dafür nur einen Kandidaten. Und der ist gestern Abend irgendwann in sein Bett gefallen und noch nicht wieder aufgestanden.“
„Wie geht’s jetzt weiter?“
„Du schwingst deinen Arsch zum Innsbrucker Platz, Matze und ich kommen da ebenfalls hin und knöpfen wir uns den Wichser vor.“
„Klingt simpel.“
„Ist es auch. Wie schnell kannst du hier sein?“
Ich überlege ganz kurz. Wäge zwischen zwei Optionen ab – die eine bedeutet, Manu zu wecken, ihr Zeit zu geben und vermutlich mit dem Clio zu fahren. Die andere … nicht.
„Eine Viertelstunde“, antworte ich knapp. Länger brauche ich nicht mit dem Motorrad, nicht um diese Uhrzeit.
„Gut. Dann sehen wir uns dort. Geh nicht alleine rein, in Ordnung?“
„Geht klar. Bis gleich.“
Keine zwei Minuten später bin ich unten am Bock. Immerhin verspüre ich Gewissensbisse, dass ich Manu hierlasse. Ich habe es ihr versprochen. Aber der Gedanke, sie hier zurückzulassen, warm, weich und sicher, ist einfach zu verlockend. Als würde ich so den Kopf frei kriegen, mich unbeschwerter bewegen. Ich muss wieder an die Situation in Schellstädters Flur denken, an die Angst, die ich um sie gehabt habe. Eine Sorge, die ich um mich selbst nie haben würde – jedenfalls nicht in der Form.
Ich setze mir den Helm auf und starte die Maschine. Rolle vom Bürgersteig und knattere die menschenleere Straße runter Richtung Kottbusser Tor.

Frank steht bereits mit einem Typen in zivil vor der Anlage. Es handelt sich um ein weitläufiges Gelände, auf dem in Reihen langgezogene Container gestapelt sind. Manchmal zwei, an anderer Stelle sogar drei Stück über einander. Ich nehme an, jeder dieser Container ist mit Etagenbetten vollgeknallt. Der Eingang besteht aus einem breiten Tor aus Metall, das teilweise von Kletterranken überwuchert ist. Auch der hohe Maschendrahtzaun links und rechts wird durch die Pflanzen wirksam dicht gemacht. Drinnen kann ich einen Vorplatz aus geharktem Kies und die ersten Container sehen. Breite Metalltreppen führen außen an ihnen hoch, um die einzelnen Türen zu erreichen.
Ich halte etwa fünfzig Meter von den beiden und kille den Motor. Während ich breitbeinig auf dem Bike hocken bleibe und meinen Helm an den rechten Lenker hänge, kommt Frank auf mich zu.
„Hey. Das da hinten ist Clemens. Aber vielleicht ersparen wir uns in seinem und deinem Sinne die offizielle Vorstellung. Je weniger ihr alle von einander wisst, umso besser.“
Ich nicke. „Wo ist Matze?“ Nicht, dass ich Angst vor ihm hätte, aber mir wäre durchaus wohler, wenn er bei dieser Aktion zu Hause geblieben wäre. Frank deutet die Straße runter, Richtung Bundesplatz. „Hockt da vorne im Auto. Pass auf, der zweite Mann ist drinnen. Redet mit dem Typen, der hier die Frühschicht hat. Ich halte mich zurück, greife zur Not ein. Es ist ihre Aktion“, fügt er erklärend hinzu. „Du bleibst am besten ganz im Hintergrund. Nicht, dass hinterher Fragen aufkommen, die keiner beantworten kann. Will.“
Ich steige ab und wir gehen langsam an dem dichtgewebten Teppich aus Maschendraht und Ranken entlang. Der Kerl, den Frank als Clemens bezeichnet hat, geht an ein Auto, das direkt vor dem Eingang parkt und nimmt etwas heraus. Es ist eine Jacke, die er sich anzieht. In gelben Buchstaben steht hinten „ZOLL“ drauf.
„Gehen sie jetzt rein?“, will ich wissen.
„Gleich, nehme ich an.“ Aufmerksam beobachtet er seinen Kollegen, der auf den Eingang zugeht und hinten aus dem Gürtel ein Funkgerät herauszieht. Der Zollfahnder hält am Tor kurz inne, spricht in die Funke. Hört, nickt, spricht wieder.
Mit einer Geste der erhobenen Hand in unsere Richtung geht er rein. Frank zieht ebenfalls eine Funke, schaltet ein. Rauschen ertönt.
„Zeisig Eins, bitte kommen.“
Während die erste Stimme leicht gepresst, wie im Flüsterton spricht, kommt eine zweite in normaler Lautstärke aus dem Lautsprecher. Ich nehme an, Clemens ist Zeisig Eins.
„Zeisig Zwei ist in Abschnitt B, Aufgang drei. Alles ruhig.“
Unsere Schritte knirschen über den Kies. Wir nähern uns einer Schlucht aus zwei Containerreihen. Zu meiner Linken kann ich einen einzelnen Container mit der Aufschrift Büro erkennen. Ein bleiches Gesicht presst sich gegen die Scheibe und beobachtet uns. Außer den Funkgeräten ist nichts zu hören, so dass mich die leicht verzerrten Stimmen jedes Mal leicht zusammenzucken lassen.
„Zeisig Zwei, warten auf Zugriff.“
„Zeisig Zwei hat verstanden.“
Etwas unschlüssig stehen wir zwischen den Treppenaufgängen, die links und rechts hochführen. Ich habe keine Ahnung, wo sich die Zollfahnder befinden.
Plötzlich ertönt die Stimme des zuvor nur flüsternden Zeisig Zwei laut aus dem Funkgerät: „Verdächtiger auf der Flucht – Abschnitt C!“
Von weiter vorne können wir Lärm hören – verschiedene Leute sprinten über die Metallgitter, die die Balustraden und Treppen außen an den Containern bilden.
Die Funke plärrt: „Zeisig Zwei, Zugriff!“

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