Zugriff

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

Frank sprintet sofort los, ich hinterher. Wir laufen an drei hintereinander gestellten Containern entlang, bis wir an eine kleine Kreuzung kommen. Rechts und links gehen kleine Wege ab, ich habe keine Ahnung wohin. Vor baut sich aus mehr von den Metallquadern die nächste Schlucht auf. An die Stirnseite von einem der riesigen roten Konstrukte ist ein ordentliches, großes ‚B‘ gesprüht.
Vom hinteren Ende dieser Gasse scheint der Großteil des Lärms zu kommen. Plötzlich schlägt direkt vor uns eine Tür auf und ballert an das Blech des Containers. Ein dunkelhäutiger Mann mit Schnauzer im Feinripp-Unterhemd sieht verschlafen aber interessiert zu uns runter.
Frank macht eine ungeduldige Geste in seine Richtung – er soll sich zurückziehen. Plötzlich poltert es über uns. Mehrere Männer rennen auf den Metallgittern auf uns zu. Frank schiebt mich mit einem Arm leicht zur Seite, positioniert sich schräg hinter der Treppe. Eilige Schritte auf den Stufen.
Als drei Männer hintereinander mit großen Sätzen in den Kies springen und Richtung Ausgang rennen wollen, bellt Frank hinter ihnen: „Stehenbleiben, Polizei!“ Er sprintet in ihre Richtung, sie verlieren gleichzeitig an Tempo, heben leicht die Arme. Als er den letzten an der Schulter packt und an der Jacke herumwirbelt, kann ich erkennen, dass es sich um einen kleinen Asiaten handelt. Bei den anderen beiden auch. Zwei von ihnen haben große Plastiktüten in der Hand.
Hinter mir höre ich weitere schnelle Schritte – oben, in der zweiten Etage. Ich wirbele herum uns sehe eine dunkle Gestalt die im Hocksprung über das Geländer fliegt. Es sind locker fünf, sechs Meter bis zum Boden.
Mit durchgedrückten Knien prallt ein Mann in den Kies, rollt sich zur Seite ab, kommt hoch. Sprintet durch den spritzenden Kies von mir weg. Ohne zu zögern laufe ich los, ihm hinterher.
Als der das Ende dieser Containerstraße erreicht, zögert er kurz, ob er zur Seite abbiegen soll. Wartet zu lange – als er sich daran macht, in den nächsten Abschnitt zu laufen, bin ich kur hinter ihm. Mit zusammengebissenen Zähnen erhöhe ich das Tempo, greife nach der Kapuze seines Sweatshirts. Ein, zwei Mal daneben, endlich spüre ich Stoff zwischen den Fingern. Mit einem Ruck reiße ich ihn nach hinten – röchelnd drückt sich sein Oberkörper in vollem Lauf nach hinten. Er kracht in den Kies, ich auf ihn drauf. Ich nutze mein volles Gewicht, pinne ihm die Arme mit den Oberschenkeln fest. Als er weiter zappelt, drehe ich mich etwas, um ihm den Unterarm auf die Kehle zu pressen. Sofort wird er still.
Ich betrachte das Gesicht eines jungen Asiaten. Mit weit aufgerissenen Augen sieht er mich an, sagt aber nichts. Schweratmend befinden sich unsere Gesichter kaum zwei Handbreit voneinander entfernt. Erst langsam normalisiert sich meine Wahrnehmung wieder – der enge Tunnel, durch den ich mich gerade in Zeitraffer bewegt habe, wird in einer langsamen Blende aufgezogen. Mein Puls beruhigt sich ebenfalls nach und nach.
„Du bist nicht der, den ich suche, oder?“, frage ich mit heiserer Stimme. Ich erwarte keine Antwort von ihm, bekomme auch keine.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort so liegen. Irgendwann bemerke ich, dass er Schwierigkeiten hat, Luft zu holen. Ich nehme an, mein Gewicht auf seinem Brustkorb ist zu groß. Deswegen entlaste ich ihn ein klein wenig, drücke aber weiter mit beiden Händen gegen seine Schultern, um ihn am Boden zu halten. Wer auch immer er ist – ich lasse ihn erst los, wenn ihn einer der Bullen übernimmt. Soviel ist mir klar.
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Mein Blick zuckt hoch – es ist Frank. „Ich übernehme ihn“, sagt er. Widerstrebend komme ich hoch. Dabei belaste ich den Asiaten noch mal mit meinem vollen Gewicht. Er keucht, beißt die Zähne zusammen. Frank packt ihn am Hemd und reißt ihn hoch. Dreht ihm die Hände auf den Rücken und fesselt ihn mit einem Kabelbinder. Dann schiebt er ihn langsam vor sich her Richtung Ausgang.
„Was ist passiert?“ Ich schaue mich desorientiert um, aber niemand sonst flieht mehr aus den Containern. Aber überall an den Geländern stehen jetzt Menschen. Die meisten Männer, und die meisten in Schlafanzügen oder Unterwäsche. Schätze, das hier ist das Highlight ihres Tages.
„Falscher Alarm. Unser Mann war nicht in seinem Zimmer.“
„Was?“ Ich fahre herum und erschrecke damit den Asiaten.
Frank sieht betreten geradeaus. Er schiebt seinem Gefangenen die Rechte in die Armbeuge, führt ihn auf diese Weise. „Die Jungs hier sind vietnamesische Zigarettenschmuggler. Die haben den Zoll gesehen und panikartig Reißaus genommen.“ Clemens und sein Partner haben sechs oder sieben eingesackt und bereits Verstärkung angefordert.“
„Zigaretten?“ Ich muss an die Plastiktüten denken, die die ersten Asiaten auf ihrer Flucht dabei hatten.
„Deswegen war das echt kein Problem, Clemens hierher zu bekommen. Schmuggler, Schwarzarbeiter -  ich wette, wenn man das ganze Containerdorf auf den Kopf stellt, findet man hier jedes Delikt, für das der Zoll zuständig ist. Eigentlich könnten die sich auch gleich Betten mieten.“
„Und Schellstädters Kumpel?“
Er zuckt die Achseln. „Wie gesagt – der Typ an der Rezeption ist sich sicher, dass er abends rein ist. Offenbar ist er später aber noch mal los, ohne dass es ihm aufgefallen wäre. Sein Bett war jedenfalls leer.“
„Und das er bei dem ganzen Spektakel hier geflohen ist?“ Unwillkürlich sehe ich mich um, als könnte uns der Unbekannte beobachten.“
„Nein. Der zweite Fahnder hat die Vietnamesen aufgestöbert, aber Clemens war direkt vor dem Container, den wir im Visier hatten. Er ist sofort darein – unser Mann war nicht da.“ Er sieht mich kurz mit einem Seitenblick an. „Es sei denn, die Informationen stimmten nicht. Also vielleicht hat sich das Datum geändert oder so“, fügt er schnell hinzu, als wolle er sicherstellen, dass ich seine Worte nicht als Vorwurf auffasse.“
„Fuck! Und jetzt?“
Frank bleibt kurz stehen, zieht damit ruckartig auch an dem Vietnamesen. „Hör zu – aber das bleibt unter uns. Wir sind gerade ziemlich busy – diese Kerle hier einsacken, die Zigaretten sicherstellen – so Zeug. Dauert nicht lange, und die anderen Kollegen vom Zoll sind hier.“ Er nimmt den Kopf leicht nach vorne und senkt die Stimme. „Wenn du die Gelegenheit jetzt nutzt und dich in dem Bungalow umsiehst … Ich glaube nicht, dass das jemand merkt. Dass da jemand was dagegen hätte.“
Ich nicke. Drück ihm kurz die Schulter und gehe wieder zurück. 
„B 31, Bett 8“, ruft mir Frank hinterher.
Kurz darauf bin ich am richtigen Aufgang und steige die wackelige Treppe hoch. Die meisten der Bewohner haben sich zurück in ihre Betten begeben, nur vereinzelt werde ich noch neugierig beäugt, als ich den Treppenaufgang oben erreiche. Der Gang, der außen an den Containern entlangführt und jeden von ihnen erreichbar macht, wirkt wenig vertrauenserweckend. Durch die Metallgitter kann man direkt auf den Boden sehen und das niedrige Geländer sieht nicht so aus, als würde es einem erwachsenen Menschen im Zweifelsfall Halt geben. Ich bin kurz dankbar, dass ich nicht unter Höhenangst leide. Trotzdem schüttelt es mich, als ich daran denke, mit welcher Tollkühnheit der junge Asiate sich von hier oben runtergeworfen hat. Und bin froh, dass er sich nicht alle Knochen gebrochen hat.
Ich erreiche die Nummer 31 – mit gelber Farbe sauber durch eine Schablone oben über die Tür gesprüht. Die ist nur angelehnt. Kurz überlege ich, ob ich klopfen soll – entscheide mich dann dagegen. Schätze, wenn man mit einem Überfallkommando vom Zoll hier reinrollt und Leute hochnimmt, muss man auch nicht klopfen, wenn man die Räume durchsucht.
In dem niedrigen Container stehen fünf Doppelstockbetten: Drei entlang der Längsseite drüben, eines an der Kopfseite und  eines zu meiner Rechten an der Wand. Große weiße Schilder verkünden die Bettennummern.
Offenbar sind drei von ihnen belegt – in zweien liegen in Schlafsäcke gehüllte Gestalten, während auf Bett Nummer Sechs ein blonder Mann in Boxershorts sitzt und sich ausgiebig unter der Achsel kratzt. Er betrachtet mich ohne größeres Interesse – ich nehme an, hier kommen und gehen die ganze Zeit Leute, ohne dass sich einer um den anderen kümmert.
Ich gehe rüber zu Bett Zehn. Dort liegt ein Armeerucksack halb unter dem Bett, oben drauf ein Schlafsack, ebenfalls in Olivgrün. Während ich mich auf das Bett hocke, greife ich mir den Rucksack. Spüre die Blicke des Blonden, der zu meiner rechten sitzt, ignoriere sie aber. Ich finde zwei Paar Socken, eine Unterhose, zwei Unterhemden. Alles ehemaliges Militär- oder Bundeswehrzeug. Einen Beutel mit Krams für Bad – Zahnbürste und -pasta, Deo, Duschgel.
Ein Wollpullover und schwarze Cargo-Pants. Sonst nichts.
Frustriert drehe ich mich halb zur Seite, betrachte den ordentlich hingelegten Schlafsack. Bemerke etwas unter dem Schaumstoffkissen und schiebe es zur Seite.
Ich halte eine sorgfältig zu einem Dreieck zusammen gelegte französische Flagge in der Hand.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram