Fetzenköder

Roman zum Thema Außenseiter

von  Mutter

Statt Zeit damit zu vergeuden, nach einem Parkplatz zu suchen, fahre ich direkt auf den Hof des LKAs. Dort stehen jede Menge Fahrzeuge in zivilen Farben, aber auch einige der blau-silbernen Polizeiwagen. Ein Uniformierter kommt auf mich zu, als ich den Clio quer hinter zweien von ihnen stehen lassen. Ich gehe ums Auto rum, hole Tiger raus. Widerstandslos folgt er mir. Als der Beamter bei uns ist, sage ich nur: „SoKo Stern. Wissinger und Wehmeier haben Bescheid bekommen.“ Verständnislos nickt er. Wir gehen an ihm vorbei.
Ich habe keine Ahnung, wo wir hin müssen, aber eine Treppe führt zu einer Tür hoch, die wie ein rückwärtiger Eingang aussieht. Irgendwer wird uns dort schon sagen können, wo wir hin müssen.
Als ich gerade dabei bin, die untersten Stufen mit Tiger am Arm hochzugehen, öffnet sich die breite Holztür. Dort oben steht Wissinger und sieht auf uns herab. Ich halte inne und für einen Augenblick starren wir uns an.
„Ich hatte Wehmeier angerufen“, sage ich lahm. Unsicher, was genau ich damit aussagen will.
„Ich weiß. Ab jetzt übernehmen wir den Jungen.“
„Wer ist ‚wir‘?“, will ich wissen. Bewege mich kein Stück und umklammere Tigers Arm unwillkürlich fester.
Wissinger zieht die Augenbrauen zusammen. „Das LKA. Wir nehmen ihn in Gewahrsam.“ Sein Blick wandert über den Hof, wahrscheinlich um sich einen Uniformierten zu suchen, dem er Tiger übergeben kann.
„Ich bleibe bei ihm.“
Wissingers Blick zuckt zurück zu mir. „Auf gar keinen Fall. Das ist unmöglich.“
„Zumindest solange, bis ich mit Wehmeier gesprochen habe. Vorher gebe ich Tiger nicht ab.“
„Das zu entscheiden liegt definitiv nicht in Ihrem Ermessen, Herr Monteleone.“ Der Hamburger Kommissar macht einen Schritt nach unten – wie um mich einzuschüchtern.
„Holen Sie Wehmeier oder Dombrowski, dann sehen wir weiter.“
Wissinger betrachtet mich einen Augenblick. Dann gibt er nach. „Also schön. Kommen Sie mit rein und wir unterhalten uns. Zusammen mit den Berliner Kollegen“, fügt er mit Nachdruck hinzu. Ich nicke, führe Tiger die Treppe hinauf. Wissinger hält uns die Tür auf.
Als wir durch die dunklen Flure gehen, frage ich beiläufig: „Wie funktioniert das System? Ich rufe Wehmeier an, der sagt seiner Assistentin Frau Kierer Bescheid und die rennt zu Ihnen?“
Der Kommissar zuckt bei meinen Worten zusammen, mustert mich im Gehen von der Seite. „Wovon reden Sie?“
„Wir hatten damals schon eine Ahnung, dass hier eine Art Wettbewerb läuft. Hamburg gegen Berlin, Wehmeier versus Wissinger. Bis vor Kurzem dachte ich, das kann mir völlig egal sein. Aber Sie haben dafür gesorgt, dass ich darüber jetzt anders denke. Deswegen will ich Tiger Wehmeier übergeben, und nicht Ihnen.“
Seinen prüfenden Blick ignoriere ich. Frage stattdessen: „Ist es noch weit?“
„Wir sind gleich da“, kommt die knappe Antwort zurück. Schätze, Wisssinger hat ebenfalls beschlossen, mich nicht mehr besonders zu mögen.
Zwei weitere Flure später öffnet er eine unscheinbare Tür, auf der ‚H21‘ steht und hält sie uns offen. „Bitte setzen Sie sich und haben Sie einen Augenblick Geduld. Die Kollegen sind gleich da.“
Mit einem Nicken schiebe ich Tiger sanft in den Raum. Wissinger schließt die Tür hinter uns.
Ich ziehe ihm einen der Hartplastikstühle, von denen vier um einen Tisch aus dem gleichen Material stehen, vor und dirigiere ihn dort hin. Der Raum ist fast vollständig kahl – lediglich zwei Mitteilungsbretter hängen an einer Seite. An ihnen sind mit Magneten verschiedene Informationen auf DINA4-Zetteln angeheftet, die meisten unten mit dem Stern der Berliner Polizei versehen.
Nach einem Augenblick der Unruhe setze ich mich neben Tiger, warte ebenfalls.

Die Tür geht auf und Wehmeier kommt rein. Er sieht ziemlich schlecht gelaunt aus. Ihm folgt dichtauf Dombrowski – der dagegen mustert uns nur aufmerksam. Frau Kierer kommt als nächste, Wissinger bildet den Schluss.
Wehmeier geht auf mich zu, schüttelt mir die Hand. Ich nicke Dombrowski und Frau Kierer zu.
„Sie sind Lucien Lefevre?“, fragt Wehmeier und beugt sich leicht zu Tiger vor. Er bietet ihm ebenfalls die Hand, aber Tiger beachtet ihn nicht. „Sie werden von Ihren Freunden Tiger genannt, ist das korrekt?“
„Er ist kaum ansprechbar“, erkläre ich. Wehmeier nickt abgelenkt. An Frau Kierer genannt, sagt er: „Nehmen Sie ihn in Verwahrung. Und sagen Sie dem Psychologischen Dienst Bescheid – wir brauchen ihre Hilfe.“ Dann wendet er sich wieder mir zu. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Monteleone. Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir genauere Erkenntnisse zu Ihrem Fall haben.“
Ich bewege mich trotz seiner verbalen Entlassung nicht von der Stelle. „Es war sein Vater. Jedenfalls sieht es schwer danach aus“, schränke ich ein.
„Was?“, entfährt es Wehmeier, der seine Aufmerksamkeit bereits wieder Tiger zugewandt hatte. Jetzt ist sein Kopf zu mir rübergezuckt.  „Wovon reden Sie?“
Ich mache eine Kopfbewegung in Tigers Richtung. „Wir sind angegriffen worden - von seinem Vater. Sagt Tiger. Patrice Landry ist von ihm mit einer Eisenstange verprügelt worden und befindet sich gerade im Urban-Krankenhaus. Tigers Vater hat ein Messer gegen uns gezogen, mit dem ich ihn bei unserer Auseinandersetzung verwundet habe.“
Dombrowski hat einen Schritt an den Tisch gemacht. Er sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Wo ist der Mann jetzt?“
„Das weiß ich nicht. Er ist geflohen und wir konnten ihm nicht folgen. Patrice war verletzt, ich habe vermutlich einige Rippen gebrochen oder zumindest angebrochen und wir mussten uns um Tiger kümmern.“
„Und Tiger behauptet, sein Vater hätte die Morde verübt?“, fragt Wehmeier.
Ich  nicke. „Von Lefevre selbst haben wir dazu allerdings keine Aussage.“ Zucke mit den Schultern, sehe zu Tiger rüber. Dombrowski winkt ab, als sei das auch etwas zu viel verlangt.
Ein lautes Knallen lässt mich zusammenzucken. Wissinger hat die Hände vor mir auf den Tisch geknallt und funkelt mich an. „Hatten Sie irgendwas mit der Situation am Innsbrucker Platz zu tun? Die Aktion der Zollfahnder?“
Neben mir höre ich Tiger wimmern. Frau Kierer geht zu ihm, redet dabei leise auf ihn ein. Natürlich, die einzige Frau im Raum – wer sonst.
„Na los, sagen Sie schon!“, brüllt der Hamburger weiter. Er kommt mir vor wie ein Hai, der auf seine Beute zuschießt. Kann mir seine zusammengekniffenen Augen auch gut blutunterlaufen vorstellen.
Meine erste Reaktion ist es, zu leugnen und mich zu verteidigen. Vielleicht in die Offensive gehen, was ihm denn einfiele. Versichern, dass ich davon nichts weiß. Aber mein Blick streift Wehmeier – der sieht abwechselnd zwischen mir und Wissinger hin und her. Dombrowski betrachtet seinen Kollegen aus der Hansestadt mit seinem typischen Argwohn. Und mir wird klar: Die beiden haben keine Ahnung, wovon Wissinger redet. Unwillkürlich muss ich an meinen Onkel Alberto denken, der uns als Kinder im Mittelmeer immer mit zum Angeln mitgenommen hat. Hochseeangeln – von Raubfischen. Das Frischfleisc h, was er dafür an den Leinen befestigt hat, nannte er Fetzenköder‘. Vielleicht habe ich Wissinger jetzt am Haken. „Woher wissen Sie davon?“, frage ich ihn. Weiche nicht zurück, sondern schiebe meinen Kopf herausfordernd an ihn heran. „Was haben Sie über Lefevre? Ich denke, der galt bislang als tot – solange, bis er uns mit dem Messer angegriffen hat.“
Wissinger richtet sich auf. Sofort setze ich nach: „Wenn Sie von der Aktion im Containerdorf wissen, müssen Sie auch Informationen zu Schellstädter haben, richtig?“ Zack – ich sehe in seinen Augen, dass ich voll ins Schwarze treffe. Sein Blick ruckt rüber zu Wehmeier, der mich mit gerunzelter Stirn weiterhin verwirrt ansieht.
Ich schiebe meinen Stuhl zurück. „Kommissar Wehmeier, ich würde Ihnen nahelegen, mit mir unter vier Augen zu reden. Ich glaube, dass es Informationen zu diesem Fall gibt, die Sie haben wollten - die Ihnen bisher allerdings fehlen. Und die einem Teil Ihrer SoKo dagegen bekannt sind.“ Ich sehe erst Wissinger, dann Frau Kierer an. Wehmeier und Dombrowski folgen meinem Blick. 
Der Hamburger setzt an, um etwas zu sagen. Schließt dann seinen Mund wieder.
Wehmeier nickt. „In mein Büro, Monteleone. Bitte. Dombrowski, kümmern Sie sich um Tiger. Ich will, dass ihn jemand nicht aus den Augen lässt. Kommen Sie danach zu mir hoch.“ Mit einer aggressiven Energie, die ich ihm nicht zugetraut hätte, verlässt Wehmeier das Zimmer. Schiebt eine Welle vor sich her. Ich stehe auf, nicke Dombrowski, der mir die Tür aufhält, kurz zu und gehe hinter dem Berliner Kommissar hinterher.
Wissinger und Frau Kierer bleiben zurück.

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 Dieter_Rotmund (08.11.19)
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