Katalysator

Roman zum Thema Angst

von  Mutter

„Dann sind wir fertig. Vielen Dank“, entlässt mich der Polizist. Ich nicke und stehe auf, sehe mich nach Wehmeier um. In dem Moment geht die Tür auf und Dombrowski kommt herein. Er geht zu seinem Vorgesetzten, die beiden stecken die Köpfe zusammen. Dombrowski scheint aufgeregt, bewegt fahrig die Hände, während Wehmeier kurz zu mir rübersieht.
Ich gehe durch das Büro auf die beiden zu. Unterbreche ihre Unterhaltung damit.
„Ist irgendwas mit Tiger?“
Keiner der beiden antwortet sofort. Dombrowski sieht zu Wehmeier, der betrachtet mich. Und sieht so aus, als rattert sein Gehirn gerade durch, was er mir erzählen kann.
„Kommen Sie – vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
Mein Appell zeigt Wirkung. Wehmeier nickt, gibt Dombrowski damit das Okay. Der räuspert sich kurz, kratzt sich am Kinn. „Tiger ist ausgeflippt. Als die Psychologin kam – hat angefangen zu heulen, zu kreischen. Ist komplett durchgedreht.“ Ich muss sofort an die Szene in dem alten Haus denken, als Tiger so ohrenbetäubend geschrien hat. Ultraschalll.
„Kommen Sie mit“, entscheidet Wehmeier und schiebt uns beide leicht zur Seite, um sich auf den Weg zu machen. Dombrowski und ich folgen ihm.
Draußen im Flur bewegen wir uns in einer Mischung aus schnellem Gehen und leichtem Joggen – immer abwechselnd. Wehmeier bestimmt das Tempo. Während wir eine der breiten Treppen hinunterlaufen, frage ich die beiden: „Wie sieht Ihre Psychologin aus?"
„Wie meinen Sie das?“ Wehmeier sieht mich bei seiner Frage nicht mal an - um seine Geschwindigkeit nicht verringern zu müssen.
Für eine Sekunde lang bin ich versucht, es ihm zu erklären. Ihm meine Theorie darzulegen – aber entscheide mich dann dagegen. „Werden wir gleich sehen“, sage ich stattdessen. Wir laufen weiter. Treppen, Gänge, Korridore, noch mehr Treppen. Müssten längst im Untergeschoss sein.
Die beiden Kommissare steuern auf eine Tür zu, vor der ein uniformierter Beamter steht. Sein Gesicht sieht auf nervöse Art gepeinigt auf, und er quittiert unser Kommen mit sichtbarer Erleichterung. Nachdem er aus dem Weg getreten ist und uns die Tür öffnet, kann ich das hochfrequente Wimmern von Tiger hören.
Der Raum sieht nicht viel anders aus als der, in dem ich mich vorher mit ihm befunden habe. Die Stühle haben eine andere Farbe und sehen etwas bequemer aus, und an den Wänden hängen motivierende Polizei-Poster. Der Rest ist gleich - selbst die Ausmaße sind fast identisch.
Tiger kniet in einer der hinteren Ecken – als wolle er sich vor der Brünetten, die vor ihm kniet, verstecken. Sie ist schlank, ich kann von hinten nicht erkennen, wie alt sie ist. Aber als sie sich in einer hilflosen Geste die leicht gekräuselten Haare hinter die Ohren schiebt, bestätigt sich mein Verdacht. Genau wie bei Luisa damals sind die Haare zu kurz – widerspenstig fallen sie ihr wieder ins Gesicht, als sie versucht, Tiger zu beruhigen.
„Was ist mit ihm?“ Wehmeiers Frage gleicht eher einem Bellen, auch wenn er sich äußerlich im Griff hat. Die Psychologin fährt herum, steht auf.
Eigentlich hat sie bis auf die Haare keine Ähnlichkeiten mit Luisa. Oder Manu, oder einer der anderen Frauen. Ihr Gesicht ist zu klein, die Nase zu spitz, die Stirn zu hoch. Ein kleines Mausmädchen. Aber es sind die Haare – und ich verstehe, warum Tiger ausgeflippt ist.
„Darf ich?“, frage ich und dränge mich an der Frau vorbei. Sie will etwas sagen, mich vermutlich aufhalten – aber offenbar stoppt sie Wehmeier. Gibt ihr vielleicht ein Zeichen oder schüttelt den Kopf. Ich kann es nicht sehen, weil ich längst bei Tiger bin, aber sie sagt nichts weiter.
Mit beruhigenden Zischlauten nehme ich seinen Kopf in meine Hände, wie ich es in der Ruine getan habe. Komme seinem Gesicht ganz nahe, lege zwischendurch sogar meine Stirn an seine. „Hey, sssssh, Tiger – ssssh!“ Dabei bewege ich mich, und damit auch ihn, langsam hin und her. Immer im selben Rhythmus – eine Bewegung, die sagt: Es mag noch nicht alles gut sein, aber es wird. Alles wird gut.
Sein Wimmern wird leiser, geht irgendwann in ein ersticktes Gurgeln über und hört schließlich ganz auf.
„Alles ist gut, Tiger. Alles in Ordnung.“
Er versucht leicht, den Kopf zu schütteln. Meine Hände hindern in daran, halten ihn nur fester. „Hey!“
„Es hört nie auf, verstehst du denn nicht? Niemals!“ Seine Stimme ist so leise, dass ich nicht sicher bin, ob die anderen sie überhaupt verstehen können. Unbestimmt spüre ich sie hinter mir – wie sie uns beobachten. Ich bin froh, dass Wehmeier mich machen lässt.
„Tiger, du bist in Sicherheit. Und alle anderen auch. Hier kommt er nicht rein – alles ist voll mit Polizisten.“
Das scheint ihn aus seiner Starre zu reißen. Er sieht mich mit geweiteten Pupillen an, legt mir die Hand auf den Unterarm und drückt erstaunlich fest zu. Zwingt mich so, seinen Kopf loszulassen. „Du begreifst das nicht. Es geht nicht um mich. Nicht mehr. Ich bin nicht wichtig.“
„Das stimmt nicht, Tiger. Du bist der Katalysator.“ Dabei muss ich an das Gespräch mit Manu denken. „Ohne dich schwebt niemand in Gefahr. Aber weißt du was?“ Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Wir nehmen einfach den anderen Teil der Gleichung raus – dann wird alles gut. Wir ziehen deinen Vater aus dem Verkehr. So dass er dir nichts mehr tun kann. Und auch sonst niemandem.“
„Ich habe sie berührt.“ Sein Blick zuckt hoch, über meine rechte Schulter. Ich nehme an, er starrt die Psychologin an. Dann wendet er sich mir wieder zu. „Das reicht ihm schon aus. Ich bin danach nicht mehr wichtig. Er sagt, ich sei sein Medium. Luca – er behauptet, ich suche sie ihm aus.“
Mir läuft ein Schauer über den Rücken. „Was meinst du mit aussuchen?“
Der Schmerz, den ich in seinen Augen sehe, tut mir fast körperlich weh. „Er lässt sich von mir leiten. Zu ihnen führen. Danach bin ich nicht mehr wichtig.“ Seine Stimme wird fester. „Ich war nicht dabei. Meistens. Ich bin abgehauen, als er kam, um Luisa zu holen.“
Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Kann nicht sprechen, nicht weiterfragen. Muss ich nicht.
„Matti habe ich erst ein paar Stunden später gefunden. Er braucht mich nicht – nicht, wenn ich sie einmal für ihn gefunden habe.“ Seine Stimme ist kaum mehr als ein kratziges Hauchen. Mit einem Ruck stehe ich auf – schmeiße dabei fast Wehmeier um, der sich dicht hinter mich gehockt hatte, um besser verstehen zu können.
„Was ist?“, fragt Dombrowski alarmiert, während ich mich bereits auf dem Weg zur Tür befinde. „Manu!“ Ich reiße die Tür auf. Rufe noch kurz über die Schulter: „Schicken Sie jemanden zu ihr! Sofort“, bevor ich den Gang Richtung Treppe runtersprinte.

Wenig später sitze ich im Wagen, prügele den Gang rein. Unter den verwunderten Blicken verschiedener Polizisten fahre ich viel zu schnell vom Hof, schleudere mit quietschenden Reifen raus auf die Straße. Schon im Laufen hatte ich das Handy aus der Tasche gefischt. Versuche jetzt, Manu zu erreichen und trotzdem nicht sofort die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren. Ich brauche ein paar Anläufe, bis endlich ihr Freizeichen ertönt. Geh ran, geh bitte ran. Geh VERDAMMT noch mal an dein verschissenes Telefon, denke ich mit zusammengebissenen Zähnen. Irgendwann teilt mir eine freundliche Frauenstimme mit, dass sie momentan nicht erreichbar sei. „Fuck“, brülle ich und feuere das Handy auf den Beifahrersitz. Kralle wieder beide Hände um das Lenkrad, um noch mehr Stoff zu geben. Ich habe keine Ahnung, wie fix die beiden Bullen sind – vielleicht steht vor dem Haus längst ein Streifenwagen, wenn ich komme. Vielleicht aber auch nicht.
Mehrfach begleitet entrüstetes Hupen meine wild-entschlossenen Spurwechsel, während ich am Ufer entlang Richtung Kreuzberg ballere. Ticke in Gedanken die Minuten ab, die ich vermutlich noch brauchen werde und korrigiere mich mit einem Fluchen ständig nach oben, wenn ich wieder an einer Ampel festhänge, die ich mich nicht zu überfahren traue.
Muss ständig das Bedürfnis bekämpfen, Manu ein weiteres Mal anzurufen. Wieder und wieder, das Freizeichen als beständiger Ruhepuls für meine rasende Ungeduld.
Kurz vor der Prinzenstraße touchiert mich ein Kleinlaster fast hinten am Heck, als ich nicht schnell genug bei Dunkelorange über die Kreuzung fliege.

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