Die großen Steine

Text zum Thema Familie

von  Rudolf

Nepomuk mag die Ruhe auf dem Friedhof, sie lädt ihn dazu ein, über seine drei Lieblingsfragen nachzudenken:

"Wo komme ich her? Wo bin ich? Wo gehe ich hin?"

Vor einem Familiengrab bleibt er stehen und studiert die Inschrift aus großen Messingbuchstaben, die auf dem glatt polierten, schwarzen Marmorstein prangen. Auf der Grabfläche ist kein Flecken Erde, um Blumen darin zu pflanzen, stattdessen bedecken wuchtige, schweren Platten aus dem gleichen, schwarzen Stein eine Fläche, die sich über vier Grabstätten erstreckt. Alles wirkt edel, teuer und pflegeleicht. Kein Umgraben, kein Unkraut Jähten. Es ist abweisend. Nichts verspielt Menschliches wie auf den anderen Gräbern. Haben die Überlebenden die Verstorbenen nicht geliebt? Wollen sie es nicht zeigen? Sind Blumen, Kreuze und Engel Kitsch?

Gotische Buchstaben geben dem Familiennamen auf dem Stein Bedeutung und Gewicht. Es ist ein stadtbekannter Name.

Das Grab mit dem blank polierten, schwarzen Marmor und den großen Messingbuchstaben bietet Platz für viele Tote. Nepomuk liest ihrer Namen. Über Jahrzehnte wurden Familienmitglieder hier beigesetzt – beigelegt, beigestellt. Wie praktisch das ist? Jede frisch betrauerte Tote sorgt dafür, dass auch die lang Verstorbenen Gedenken bekommen. Das schafft Zusammenhalt in der Familie.

„Der Wert eines Menschen ist das gewichtete Mittel aus Erbe, Summe der Einnahmen zu Lebzeiten, abzüglich aller Ausgaben inklusive der Kosten für die Beerdigung. Oder ich nehme einfach den Materialwert? Was kosten eigentlich achtzig Kilogramm einer Mischung aus Sauer-, Wasser-, Kohlen- und Stickstoff? Da waren noch Calcium und Magnesium. Teuer kann es nicht sein – Wasser, Luft, bei Aldi kriege ich ein Röhrchen mit allen lebenswichtigen Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen für neunundneunzig Cent“, Nepomuks Gedanken schweifen in die Geldwelt ab.

„Händlerinnen schätzen den Marktwert ihrer Kundinnen. Wie viel Geld bringt sie mit? Lohnt es sich, sie zu umgarnen? Der Sozialhilfesatz bildet die Nulllinie, der steht jeder zu. Ausstattung und Größe eines Grabes belegen über den Tod hinaus den gefühlten Marktwert der Verstorbenen.“

„Über Geld spricht man nicht“, hat Mama immer gesagt.

Aber zeigen darf man es. Das große Familiengrab macht schon mehr her als so ein mickriges Urnengrab. Auch auf dem Friedhof muss man wissen, was man sich schuldig ist.

Nepomuk blickt von dem großen, blank polierten, schwarzen Stein rüber zu dem Urnenfeld, auf dem die Armen anonym beerdigt werden.

„Die sind alle gleich tot“, denkt Nepomuk, wendet sich ab und gibt sich wieder seinen drei Lieblingsfragen hin.

"Wo komme ich her? Wo bin ich? Wo gehe ich hin?"

Auf dem Friedhof ist es schön ruhig.

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