Inhalt 
II. 

I.

Erzählung zum Thema Abrechnung

von  Lala

I.

An einem Nachmittag, mitten in der Woche, klingelte es plötzlich an ihrer Tür. Das Klingeln platzte in ihre blaue Stunde herein. Eine Ruhepause, die sie sich schon immer gegönnt hatte. Damals noch mit ihrem Vogel Ari. Es war ihre Mittagspause, die sie zu einer stillen Einkehr überhöht hatte. Damals hatte sie sogar noch geraucht, aber ganz diszipliniert, nur drei, vier Zigaretten am Tag und sehr gepflegt genehmigte sie sich einen Fingerbreit guten Scotch dazu. Sie hatte nie die verstanden, die ihre Figur und ihren Verstand mit süßlichem Naschzeug und Likör vermanschten. Sie war dankbar für ihren Instinkt, ihren guten Geschmack und damals auch über Aris Anhänglichkeit. Er schien ihr den gleichen Instinkt wie sie zu haben. Katze war Kurts gewesen. Er hatte sie angeschafft. Katze lag abends schnurrend auf seinem Schoss während Ari auf ihrer Schulter saß und Köpfchen gab.

Ihr Mann hatte viel und lange in der Filterfabrik gearbeitet, war wortkarg vom Wesen aber immer zuverlässig und tüchtig gewesen. Diese Tugenden schätzte sie an ihm. Phantasie aber ging ihm ab. Katze hieß Katze und auch alle anderen Dinge, Gegenstände, Menschen und gar sie selbst war meist nur sein Weib. Er pflegte alles in allgemeinen oder oberflächlichen Namen zu benennen.  Wenn aber „Katze“ um ihn herumscharwenzelte, wenn er sich seinen „Stinkerkäse“, wie sie ihn despektierlich nannte, zubereitete und auf Brot mit Zwiebel, Salz, Pfeffer und Paprika genoss, nebenher seinen Finger in ein Schälchen Kräuterquark tunkte und ihn von Katze unter beiderseitigen gutturalen Geräuschen abschlecken ließ, war „Katze“ sein Mädchen.

Katze aber auch Ari, Scotch und Zigaretten fehlten schon seit langem an ihren blauen Mittagen, als die Klingel sie aus ihrer Einkehr gebracht hatte. Das Geräusch der Klingel hatte sie schon immer als hässlich, aufdringlich und ohne Takt empfunden. Langsam erhob sie sich aus ihrem Sessel, rieb sich die Augen und während erneut der Summer noch zweimal gequält ertönte, ging sie zum Plattenspieler, lupfte den Tonarm und unterbrach das wunderbare Orgelkonzert von Helmut Walcha. Auf den Geschmack von Whiskey oder Tabak konnte sie in ihrer blauen Stunde verzichten, aber niemals auf gute Musik. Unerträglich fand sie das Bild eines Plattentellers, der unter der nahen, aber doch entfernten Nadel kreist, die ihre Einsamkeit und Stille in Musik verwandeln kann - aber nur wenn es einer höheren Macht gefällt. Ansonsten kreist der Teller um seine Mitte und hört nur sich selbst.

Friederike Helm lugte durch den Spion und sah vor ihrer Tür niemanden mehr; was ihre Zornwütigkeit steigerte, aber bevor sie unter extremer Contenance und ohne Hast den Sichtverschluss wieder vor den Spion geschoben hatte, gewahrte sie vor der gegenüberliegenden Wohnungstür einen breiten Rücken gewandet in ein buntes, regenbogenfarbenes Hemd, dass über den Bund herüberschlabberte. Der Herr stand leicht vornüber gebeugt und schien Mühe zu haben, seine Tür, so es denn seine war, zu öffnen.

Dieser feiste, junge Kerl mit seinem kurzen, borstigen Haar war wohl ihr neuer Nachbar und seine Kleidung verriet Friederike, dass er keinen nennenswerten Geschmack oder Verstand haben konnte. Ausgerechnet so ein Knilch war der Nachmieter des vor Jahresfrist pleite gegangenen Bibliothekars mit seinem Antiquariat im Erdgeschoss. Sie hatte schon bemerkt gehabt, dass die alte Eingangstür zum Antiquariat, durch die sie ein nur ein-, zweimal gegangen, seit dem sie hier eingezogen waren, seit längerem schon zugeklebt und dichtgemacht worden war, sie hatte schon bemerkt,  dass gemunkelt wurde, dass ein Blumenladen bald seine Pforten im Erdgeschoss eröffnen würde.

Nicht mal einen Tag, einen Einkauf beim Reichelt oder beim Edeka, hatte es gebraucht, um ein mit Büchern und Regalen voll gestopftes Ladenlokal abzuräumen, leer zu machen und zum Verkauf anzubieten, hatte Friederike noch gedacht, als sie mit ihrem prall gefüllten Einkaufsnetz an ihrer Haustür stand und den Schlüssel suchte und dabei gewahrte, dass es keinen Bücherladen und keinen stillen Nachbarn mehr gab. Wann hatte sie den Antiquar, ihren Etagennachbarn, das letzte mal gesehen, wann seinen Laden betreten und nicht nur vor dem Schaufenster schmunzelnd seine unbeholfenen Werbungsversuche verfolgt? Sie wusste es nicht.

Nun haderte sie, noch immer vor der Wohnungstür stehend, ob sie öffnen sollte. Eigentlich hatte sie keine Neigung das Gesicht zum Hintern kennenzulernen, der sich in der dunkelblauen, an den Nähten arg gespannten Jeans ihrem Blick durch den Spion entgegenreckte. Aber dann entschied sie sich doch dafür, diesen Kerl kennen lernen zu wollen, der es gewagt hatte, sie in ihrer Mittagsruhe zu stören.
Sie hätte es sich selbst nicht zugestanden, dass sie zur Theatralik und zum Auftritt neigte, aber sie hatte definitiv Spaß daran, als sie ihre Türkette beiseite schob und mit größtmöglichen Schwung aufmachte und mit einem Timbre aus allen je genossenen Scotchs und Zigaretten ein souveränes „Junger Mann? Haben Sie mich aus meiner Mittagsruhe gerissen?“ herauszuhauen.

Der wackelpuddingartige Körper des Fremden zuckte vor Schreck konvulsivisch zusammen, dehnte sich, spannte sich in grotesk kurzen Spannen und obendrein flutschte ihm noch der Schlüssel aus seinen dicklichen Fingern und schepperte viel zu laut auf die Fließen des Treppenhaus.
Seine Verrenkungen, sein sich deutlich in den Achselhöhlen abzeichnender Schweiß und seine hervorquellenden Augen bereiteten ihr Vergnügen und seufzend wie kopfschüttelnd ergänzte sie noch: „Für diesen Lärm habe ich mein schönes Konzert unterbrochen.“

Nachdem sich ihr neuer Nachbar, der in ihren Augen ein „Kalb Moses“ war, sich und seinen Schlüssel wieder unter Kontrolle gebracht hatte, stand dieser dicke, unbeholfene Junge vor ihr und strahlte aus kleinen aber klaren Augen und sprach sie ohne Scheu oder Distanz an.

„Was soll ich sagen Frau Helm?“, begann er, machte eine Pause, nur um dann „Männer!“ zu gurgeln und dabei seine Augen zu verdrehen.
Friederike Helm sah ihn irritiert an und fragte sich wovon er sprach.
„Männer“, wiederholte er, als hätte er schon ihre Zustimmung, „kommen im unpassenden Moment und können es nicht erwarten, ihren Hintern wieder aus der Schusslinie zu nehmen.“

Wieder machte er eine Pause, suchte Augenkontakt und erwartete vielleicht einen Lacher, aber Friederike war, obwohl sie der Knabe einen kurzen Moment lang positiv anrührte, sprachlos. Als beide den Moment verpasst hatten, eine Gesprächspause nicht peinlich werden zu lassen, plapperte ihr Gegenüber los.

„Es tut mir leid, Frau Helm“ begann er und haspelte sich ab, „wenn ich so aufdringlich geklingelt habe, aber ich dachte mir, dass es gut ist, dass es richtig ist, wenn ich mich vorstelle. Wer macht das noch? Wenn ich mir überlege was nicht passieren würde, wenn wir, wie Menschen das doch tun sollten, einfach – einfach so und grade heraus – aufeinander zugingen und sich die Hand gäben und sich einander vorstellten und“
„Ja, dann machen Sie es doch!“, unterbrach ihn Friederike jäh, weil die Plapperei ihres Nachbarn, ihr zunehmend auf die Nerven ging. Die kleinen Augen ihres Gegenübers wurden groß und kalbsartig.
„Was denn?“, echote er tonlos.
„Sich vorstellen.“, entgegnete sie kalt, streckte dabei ihre Hand zur Begrüßung aus und ergänzte „Friederike Helm, und mit wem habe ich das Vergnügen?“

Sein teigiges Gesicht wurde blass, dann rot.
„Briegel“ antwortete er wie ferngesteuert.
„Angenehm, Helm. Und weiter?“, half sie mit maliziösem Vergnügen aus, während sie seine Hand ergriff, die sie instinktiv für eine kalte Fischflosse hielt.
„Oh? Entschuldigung : Piet.“, ergänzte er tranig wie eilfertig.
„Fein, Briegel Piet, es hat mich gefreut, Sie kennen lernen zu dürfen. Auf gute Nachbarschaft und auf Wiedersehen.“
Und mit einem ordentlichen „Rrrumms“ ließ Friederike die Tür wieder ins Schloss fallen.

Piet Briegel stand noch wie bestellt und nicht abgeholt geraume Zeit geistesabwesend vor ihrer Tür. Natürlich genoss es Friederike, dass belämmerte Gesicht ihres Nachbarn aus der Perspektive ihres Türspions, noch ein Weilchen beobachten zu können, bis ein Schütteln durch Piets schweren Körper ging und seine Augen wieder Glanz und Fokus erhielten. Piet Briegel war aus seiner Verdatterung erwacht, kratzte sich kurz am Kopf und ging dann endlich seiner Wege.

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II. 
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Kommentare zu diesem Text

janna (61)
(19.11.10)
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 Lala meinte dazu am 19.11.10:
Hallo janna,

das höre ich gerne. Es bestätigt meinen Eindruck, dass sich die Arbeit an Prosa Texten lohnt und es nicht verkehrt ist, wenn man Bock darauf verspürt, einen Text nochmal zu überarbeiten. Auch wenn ich schon kurze Nachricht bekommen habe, wo ich immer noch feilen kann und selber weiß dass hinten raus die Enten wahrscheinlich dünner werden, was die konzentrierte Text- und Feilarbeit angeht.

Aber ich hoffe und drücke dem Blumenmann die Daumen, dass er Dich noch ein bißchen weiter unterhält oder hat.

Danke Dir.

Gruß

Lala
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