Frühling bei der politischen Polizei

Satire zum Thema Zwang

von  KayGanahl

Frühlingsabend. Es stank in der Stadt überall nach Scheiße. Die guten Zeiten waren längst vorüber. Die Häuserreihen, die ich auf dem Weg zum Dienstgebäude passierte, erglänzten im Scheinwerferlicht der fahrenden Lastkraftwagen und von ein, zwei dünnen Lichterketten schnittiger Oldsmobiles. Es war heute der volle Frühling mit den entsprechenden Gefühlen angesagt!
Aber genau dies war kaum zu glauben, dennoch mussten wir es glauben, denn es war von oben befohlen worden. Im Bericht unserer Dienstschicht würde auch heute mit größter Wahrscheinlichkeit einfach stehen: "Alles wie üblich!". Das Abhaken jedes Jobs war zu einer leidigen Pflicht degeneriert. So eine Pflicht war noch gerade so erträglich, wenn man sich zusammenriss. Eine Belastung war: Niemand durfte (was sonst!) viel wissen, alle mussten (wie in allen "Diensten") verdächtig sein. Viele überbelastete Kollegen hatten gefälligst die Nerven zu behalten und ihre Jobs pflichtgemäß durchzuführen, obwohl sie reif für eine längere Auszeit oder sogar für die Therapie waren. Und keiner, der hier in seinem Beruf überleben wollte, würde eine offene Kritik an diesen Zuständen wagen. Somit erschien alles, auch das Übelste, wie unter einer Decke der Normalität und Leutseligkeit verborgen. Unser "Dienst" war mit dem, was unter der Decke der Normalität geschah, einer des Arbeitens und Diensttuens. Er war sowieso insgesamt ziemlich bedrückend. Am bedrückendsten war die Tatsache der ständigen Konfrontation mit der geheimpolizeilichen Grauzone, einer Praxis des Gesetzesbruchs und des Betrugs der Bürger: Der Routine in Selbstverständlichkeit!
Aber der "Dienst" wusste eben recht viel, besonders das Negative, von dem ja einige Politiker nichts wissen wollten.
In der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit befand sich unsere Gesellschaft, um nicht zu sagen unsere Welt, im Aufruhr! Das musste endlich einmal gesehen, besser gesagt: erkannt werden. So einige Bürger taten sich damit äußerst schwer. Wahrscheinlich wollten oder konnten sie sich dieser Wirklichkeit nicht bewusst stellen.

Im Gebäude. In der heutigen Abendschicht waren wir im Team tätig. Allerdings begab sich das, was uns kein Kollege je zugetraut hätte. Es war so, dass wir etwas tun wollten, wofür man uns durchaus einen Schuss in den Kopf würde verpassen dürfen. Wir würden versuchen, den schnellsten Weg in die Freiheit zu finden.

Im Gebäude. Mit dem Blick nach draußen. Straße. Es war jetzt auch schon Punkt 12 Uhr, tief in der Nacht. Die Motorengeräusche der nahenden und sich rasch entfernenden Autos versetzten uns in Angst, wenn auch nur leicht. Als "gewichtige" Personen wussten wir ja mit Angst umzugehen. Es war trotzdem eher peinlich, dass wir immer noch so etwas wie Angst empfanden. Die Szene war in Bewegung, Masken wurden ausgetauscht, phantasievolle Trivialitäten zum Erwecken eines trügerischen Scheins wurden bemüht.
Endlich war ich an der Stelle angekommen, von wo aus ich mich abzusetzen beabsichtigte. Ich wollte nicht wahrhaben, dass sie mich gesehen hatte. Sie! Aber es war wohl so. - Dies war es heute, ich begriff recht wenig (so glaubte ich manchmal), gedachte aber jetzt für mich mit innerer Anteilnahme der vielen Toten in diesem Gebäude der geheimen politischen Polizei, welches viele leidende Menschen gesehen hat, so dass Trauer und tiefes Bedauern dringend geboten sind, immer und für jedermann, was ich augenblicklich vollauf erkannte. Obwohl es mitten in der Nacht war, Ruhe befohlen worden war, sang ich leise ein Klagelied, während ich an einem Glimmstengel zog. Anschließend nahm ich meine Beine in die Hand. Weng später konnte ich sie loslassen, weil sich die Situation schon wieder geändert hatte. Der Glimmstengel fiel mir vor Aufregung aus der Hand.
Schon sah ich sie in voller Größe! Da kam sie in ihrer beeindruckenden Eleganz angetrabt!
"Hallo!"
"Hallo!!" begrüßten wir uns.

Die Leiter, an welcher wir nun beide hingen, bog sich nach innen weg. Es erwies sich zu unserer Freude, dass diese altgediente Leiter das aushielt. Wir kamen überein, hier etwas länger als nötig zu bleiben. Turtelnd, ja knutschend und sabbernd ließen wir vorerst nicht mehr voneinander ab. Dies war ein Vergnügen, sage ich euch! Unser Projekt, welches noch in den Kinderschuhen der Entwicklung steckte, begann mir sogar ein bisschen Freude zu bereiten. Es durfte meinetwegen so weitergehen! ... unser "Projekt Flucht".

Euch, ihr Lieben, möchte ich diese Geschichte gewiss noch zu Ende erzählen. Wenn sie auch keine bedeutende Geschichte ist, so kann sie doch ein Augen- und Ohrenschmaus sein, oder etwa nicht?
Nunmehr lehnte ich mit ihr zusammen an einer Mauer, die nicht von uns wegrücken wollte, weil sie äußerst hartnäckig war. Wir ließen uns aber als eine verschworene Gemeinschaft der Zwei nicht so schnell verängstigen. Diese Mauer blieb erst, wo sie war. In dieser gegenwärtigen Situation der Bedrängnis irgendwo im Gebäude des "Dienstes", würde dies möglicherweise für uns persönlich zu einer großen Gefahr werden können, weil die Vorgesetzten, die Mächtigen, welche über uns standen, es nicht zulassen wollten - - - unsere Flucht war entdeckt worden!

Warum diese Flucht? Die "Abteilung für sexuelle Zensur" würde es vielleicht noch einmal durchgehen lassen, wenn ihr eine offizielle Meldung vorliegen sollte, unser Verhältnis tolerieren, aber ich kannte die Unvernunft und die Intoleranz der lieben Kollegen. Auf lange Sicht war unser Bemühen, zusammen zu sein, wahrscheinlich kein Erfolg beschieden.
Hier an der Leiter waren wir jetzt zusammen, hielten einander Volksreden und dämmerten zeitweilig nur noch vor uns hin. Mehrmals zischte ein Projektil aus einer automatischen Schusswaffe an uns vorbei, ich spürte dies genau. Da gab es auch noch Kollegen, die durch das Gebäude huschten und festgenommen wurden. So war das eben bei uns!
Gerade deswegen meinte ich natürlich, mich in dieser Situation ganz besonders vorsehen zu müssen. Ich machte ihr gegenüber, meiner Freundin, eine Anspielung. Ich meinte zu ihr leise: "Wir müssen aufpassen, dass man uns nicht entdeckt. Dies hier ist ein geheiligter Ort. Nur die Todgeweihten finden sich hier ein! Normalerweise wird, einmal hier angekommen, gar kein Fluchtweg mehr geduldet." Sie nickte so, als hätte sie es begriffen. Ich war davon überzeugt, dass sie sich davon nicht würde beeinflussen lassen. Sie war für mich die Tollste, Geheimste, Abgebrühteste, kannte alle Schlichen, die wir für unseren Beruf so brauchten. Ihre Fachausbildung machte sich in der heutigen Nacht, da wir in dieser misslichen Lage waren und viele fiese Typen im Gebäude herumliefen, ganz sicher gut bezahlt.

Denken wir doch mal klar an das, was wir beruflich sind: Beamte! Aber besondere Beamte! Immer galt es, das Nötigste zu erledigen. Es galt ohne Frage, die Geltung des "Dienstes" dem Staat und seinen Bürgern zu erhalten. Und es galt auch, all die bösen Feinde auszuspionieren, zu überwachen, zu behandeln und dingfest zu machen, wenn es denn sein musste. Die Liquidierung stand manchmal auch an. Wir verstanden, was in der weiten Welt vor sich ging, -wir schon!
Die "nackten Wahrheiten", von denen ich wusste, hätte ich allerdings längst in mein prächtig funktionierendes Gedächtnis einschreinen sollen. Seiner konnte ich mich wahrlich erfreuen.

"Möchte die Welt, möchte dieser Staat ... kaputt gehen?!" schrie ich aus. Meine Freundin lachte, kuschelte sich so gut wie möglich hier auf der Leiter an mich. Aber dann sprangen wir von der Leiter herunter. Wir rannten los, da wir - die Verfolger waren an ihren Gesichtern zu erkennen - hart verfolgt wurden. Dann wurde ich schwer verletzt, mein Bauch wurde aufgerissen, was mir sehr starke Schmerzen verursachte. Meine Freundin war schon weiter als ich. Ich gab mein Bestmöglichstes, rannte weiter, was mir natürlich immer schwerer fiel.
"Komm' endlich!!!" rief sie. Dann hatte sie meine linke Hand gepackt.

Wir waren in einem bösen Traum gefangen, so kam es mir vor. Ließen allerdings einander nicht mehr los. Die wahre Liebe, die ich zusammen mit meiner Freundin erfuhr, nahm an diesem Ort leider einen viel zu schlechten Fortgang. Ich bemerkte nun, wie ich mich selbst und mein Selbst würde verlieren können, weil die jetztige Verfolgung, der wir ausgesetzt waren, nicht dazu geeignet war, das eventuell noch vorhandene Gute im Menschen zu erkennen, zu akzeptieren und zu feiern, vielmehr schien nurmehr das Böse zu regieren.
Ich drehte mich mit ihr zusammen um, da kamen so ein paar irrsinnige Feindgestalten herbei. Jetzt bedurfte es eines ganz schnellen Handelns voller Entschlusskraft. Kaum, dass sie zu uns aufgeschlossen hatten, zogen wir unsere Dienstwaffen und erschossen sie. Gegenüber diesen Kollegen konnten wir einfach gar keine Rücksicht nehmen, unser Leben war schließlich stark gefährdet, ahnten wir doch, was man im Gebäude mit uns würde unternehmen wollen. Die Methoden der Arbeit hier waren schrecklich, so schrecklich, dass man an sie nicht einmal denken wollte. Bloß nicht einmal selbst in einem dieser Räume eingesperrt sein!

Wissen sie, unser beider Liebe, das ganze Gefühlswirrwarr, beherrschte uns natürlich. Kein Mensch, kein "Dienst" auf der Welt würde uns entzweien können. Wir wussten, dass uns die ganze Welt der Erscheinungen gehören würde, sofern wir unsere Liebe in eine Form bringen könnten. Nun denn! Unsere Feinde würden jedoch alles versuchen, unsere Liebe zu zerstören.
Die Leichen der erschossenen Verfolger konnten wir nicht entfernen. Dafür war keine Zeit. Äußerst angespannt waren wir, konnten im totalen Überlebensstress allerdings noch gerade so über die nächsten Schritte, die zu "gehen" waren, nachdenken.
Plötzlich baute sich vor uns eine Wand auf, die uns magisch anzog. Ich sah sie mir genau an. Auch meine Freundin tat dies. Dann lehnten wir uns an sie, um noch mehr nachzudenken. Intensives Nachdenken war jetzt sehr wichtig. Ich streichelte diese Wand zärtlich, wogegen meine Freundin lediglich mit ihrem Rücken an sie angelehnt auf dem Boden saß.
Weitere Feindgestalten waren augenblicklich nicht zu bemerken, doch eine Zufluchtsstätte konnte dies hier noch nicht sein. Waren wir im Freien? Oh, ja. Erstaunlich. Über uns jagte ein Raubvogel. Dann sahen wir, dass sich die Wand von uns weg bewegte. Schon wollten wir hinterher, doch es erstanden vor uns viele Hindernisse, weshalb wir innehielten. Ich ging zu einer der Leichen, die immer noch da lagen, um sie mir genauer anzusehen. War eine Identifizierung möglich?
Es war der "Boss des Dienstes".

by Kay Ganahl
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