Friedhofsordnung

Text zum Thema Tiere

von  Rudolf

Illustration zum Text
Friedhofsordnung
(von Rudolf)
Links neben dem Nordeingang des Friedhofs hängt ein grünes Schild mit weißer Schrift. War es ein unterbezahlter Mitarbeiter des Friedhofamts – das gehört gar nicht zu meinen Aufgaben – oder ein verärgerter Besucher – kassieren Steuern und tun nichts dafür? Jedenfalls hatte jemand die Patina der vergangenen Jahre mehr schlecht als recht abgewischt. Wenige Herbste weiter und die Schrift wäre unter dem Schmutz aus der Luft verschwunden. Nun kann es jeder wieder lesen, auch wenn einige Passagen noch immer unter dem Dreck der Jahre verborgen sind. Der Stadtdirektor Eichenheims gibt Friedhofsbesuchern Hinweise.

Nepomuk weiß nicht, wie oft er an diesem Schild vorbeigelaufen ist, aber er weiß, dass er heute zum ersten Mal den Auszug aus der Friedhofssatzung bewusst liest. Hinweise, Bestimmungen, Satzung: das schafft Ordnung -- Friedhofsordnung. Nepomuk tritt neugierig näher. Er mag Ordnung. Gute Wörter stehen auf dem Schild: Sonderausweis, Zulassung, Zuwiderhandlung. Allein das Schild selbst stört die Harmonie zwischen Nepomuk und dem Inhalt des Textes. Das Schild strahlt keine Autorität aus. Die Botschaft des Stadtdirektors ist im Wechsel von winterlichem Frost, sommerlicher Glut, Regen, Schnee und Wind zu einer unansehnlichen, graugrünen Platte verkommen, die auf den Müll gehört.

Das Mitbringen von Tieren auf den Friedhof ist nicht gestattet.

Nepomuk blickt auf. Unter dem Efeu hat es laut geraschelt. Eine Amsel sucht im braunen Laub des letzten Herbstes nach Würmern. Er nickt dem Tier lächelnd zu: „Dich hat niemand mitgebracht.“

Frühlingswind streicht durch die knorrigen Äste der alten Eichen und durch die Büsche, an denen erstes zartes Grün den Frühling verkündet. Eine Forsythie erstrahlt in der Sonne. Im Kontrast zum finsteren Schwarz des Marmorsteins neben ihr leuchtet sie in gelbstem Gelb. Während Nepomuk sich wieder schweigend in das strenge Ordnungswerk vertieft, wird es um ihn herum lauter. Ein Konzert unzähliger Vogelstimmen mischt sich in das Säuseln des Windes. In der vergangenen Nacht war es frostig kalt gewesen, aber nun in der Sonne strotzt der Friedhof vor Leben. Leben, das nach mehr Leben schreit, das sich reproduzieren will, das nichts davon weiß, dass Kinder unter zwölf Jahren diesen Ort nur in Begleitung eines Erwachsenen betreten dürfen.

„F-iii- cken, Ficken, Fick!“

„Was schreit der kleine Kerl?“, Nepomuk traut seinen Ohren kaum, blickt auf in Richtung des Baums, aus dem der Ruf kommt.

„Tief fick, tief fick, tief fick!“ antwortet es aus einem Busch.
Dann wieder: „F-iii- cken, Ficken, Fick!“

Nepomuks Gedanken lösen sich von der Friedhofsordnung, die jeden Besucher anhält, sich der Würde des Ortes entsprechend zu verhalten, und horcht in den Friedhof hinein.

„Popp, Popp, Popp, Popp, Popp!“ übernimmt ein Specht die Percussion.
„Vögl, Vögl, Fick – Vögl, Vögl, Fick.“ weitere Stimmen mischen sich in das Konzert.

Vögeln, Ficken, Poppen! Welch ein Spektakel an diesem Ort der Würde, der Ruhe, der Trauer, des Abschieds. Für die kleinen Piepmätze gilt die Friedhofsordnung nicht; für sie gilt das Recht des Schnelleren, Stärkeren, Lauteren. Die Friedhofsordnung gilt für den Homo Sapiens Sapiens, weil er es Leid ist, nach den Regeln der Natur zu leben.

Nur die, die lesen können, müssen sich an die Friedhofsordnung halten.

Nepomuk will für den Augenblick nicht mehr lesen können und lässt sich umfluten von den Vogelstimmen, die ihm berichten, dass wieder ein Winter vergangen ist, die einer höheren Ordnung folgen als der des Stadtdirektors, als der, die Nölendorf in jeder Abteilungsbesprechung neu einfordert, als der, die Nepomuk so mag, wenn alles seinen Platz hat. Er geht auf den Friedhof vorbei an den verrotteten Bestimmungen, die längst unter der Patina der Jahre verschwunden wären, hätte sie nicht ein unterbezahlter Mitarbeiter des Friedhofsamts oder ein verärgerter Besucher noch einmal hervorgeputzt.

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Kommentare zu diesem Text


 Songline (11.04.11)
Ich hab zwar noch nie das f- oder das v-Wort aus dem Gesang von Vögeln herausgehört, aber die ruhige Erzählweise des Texte mit den gut platzierten Seitenhieben auf die deutsche Ordnungskultur gefällt mir sehr.

 Rudolf meinte dazu am 18.04.11:
Ist vermutlich das alte Problem, dass Frauen in der Themenvielfalt ihres Denkens breiter aufgestellt sind. Danke fürs Lesen, Kommentieren und Loben.

 RainerMScholz antwortete darauf am 20.12.12:
Da stimme ich zu.
Grüße,
R.
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