Renn um dein Leben

Gedanke zum Thema Gesellschaft/ Soziales

von  Shagreen

Ich träume...

Wir rennen. Die Zeit drängt und die Sekundenzeiger unserer Uhren schieben uns vor sich her. Wir können nicht anders. Im Kleinkindalter geht es schon los - wir lernen laufen. Schamhaft blicken wir - "Mami, ich bin schon groß" - dann zurück, als wir noch krabbelten, auf allen vieren, und doch nicht recht vom Fleck kamen. Dann in der Schule wird uns das ABC des Laufens beigebracht: Arme anwinkeln, Oberkörper leicht nach vorne neigen, den ganzen Körper einsetzen. Und selbst wenn wir alt sind und unser Bewegungsradius auf Tablettengröße geschrumpft ist, werden wir das Gelernte doch nie vergessen haben. Aber jetzt sind wir noch fit - also rennen wir. Erst rennen wir einzeln, dann in kleinen Gruppen, schließlich in der breiten Masse. Wir rennen nicht nur zum Bus, der vor unserer Nase die Haltestelle verlassen will. Wir rennen nicht nur beim Essen, um das Nützliche mit dem Notwendigen zu verbinden. Wir rennen bei jeder Gelegenheit - weil wir es können. Und der Weg ist das Ziel - wohlgemerkt: der kürzeste Weg. Denn es geht doch immer um Effizienz. Hindernisse gibt es nicht. Sollte sich ein Hindernis vor uns auftun, z.B. ein Ozean, werden wir in bester Forrest-Gump-Manier auf der Stelle drehen und in entgegengesetzter Richtung davoneilen. Denn es ist gesellschaftlicher Konsens: Leben heißt Rennen. Wir sind dafür schon biologisch geschaffen worden; der ganze Organismus strotzt vor Bewegung. Der Puls rennt. Die Gedanken rasen. Alles fließt. Stillstand bedeuted Tod. Ist nicht das ganze Universum Ausdruck einer gottgegebenen Bewegung?! Und noch etwas wird jeder vernünftige Mensch bestätigen können: Beine sind besser als keine. Wobei die gesellschaftliche Norm bei zwei Beinen liegt. Auch die politischen Parteien fühlen sich dem verpflichtet, indem sie durch die Bank propagieren: "Wir machen euch Beine!" So schrieb auch Joschka Fischer sein Epochenbuch "Mein langer Lauf zu mir selbst" - er hätte kürzer sein können, aber immerhin. Ein paar andere Radikalinskis fordern "Beine hoch!" und treffen damit nicht mal bei Rollstuhlfahrern auf Verständnis. Also rennen eigentlich alle, auch wenn einige es nicht praktizieren können - aber mit den Gedanken sind sie dabei. Und das zählt ja auch schon - der gute Wille. Und so kann mach auch beim Fernsehen, rennende Menschen beobachten. Aus dem Radio hören wir die schnellen Schritte der rastlosen Menge. Die Gespräche der Menschen drehen sich rund ums Rennen. Selbst der Schlaf wird nur als kurze Unterbrechung zwischen zwei Renntagen gesehen...

Ich wache auf. Um mich herum hetzen Menschen. Ich denke an Luther, eine Legende: Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.

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Kommentare zu diesem Text


 Rudolf (09.07.11)
Gefällt mir. Fein beobachtet und gut ausformuliert. Der moderne Mensch hat keine Zeit zum Leben, muss immerzu rennen.
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