Wir sterben

Erzählung zum Thema Entfremdung

von  Vessel

„Das ist sie nicht“, sagte Frederic, nachdem er das Immergrün vom Grab entfernt hatte.
Julie lief unruhig einen kleinen Weg zwischen den Gräbern auf und ab und schlurfte dabei durch das nasse Laub.
„Lass uns gehen“, sagte sie.
Der Friedhof lag auf einer Anhöhe. Manche Grabsteine waren umgestürzt, nur wenige Gräber schienen noch von Angehörigen gepflegt zu werden. Es gab eine kleine Kapelle, über dem Eingang hing ein hölzernes Kreuz. Die Wände waren mit Plastikfolien abgedeckt und die Bänke staubig. Es roch nach Zement und Feuchtigkeit. Ein Tisch stand vorne, auf dem einige ausgebrannte Teelichter standen. Frederic zündete ein Teelicht an. Ich blieb mit Julie am Eingang stehen.

Wir wohnten in einem alten Hotel im Ort, nicht weit hinter der deutschen Grenze, ich konnte mir den Namen nicht merken. Frederic hatte es ausgesucht. Er und Julie waren ein Paar und ich hatte mich gewundert, als Julie mich bat, mitzukommen. Wir kannten uns von früher und waren die Jahre über in Kontakt geblieben.
Frederic erzählte von seiner Urgroßmutter. Was er über sie wusste, wusste er von seinem Vater. Auf dem Friedhof hatte er ihr Grab gesucht, die Familie war nach dem zweiten Weltkrieg ausgewandert, nur die Urgroßmutter blieb in Tschechien und starb dort. Wegen ihr käme er zurück, sagte er. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie man sich um einen toten Menschen sorgen konnte, den man selbst nie gekannt hat.
„Es ist jetzt nichts mehr von ihr da“, sagte er. „Ob man uns auch mal so vergisst?“

Es regnete und es war kalt. Das Laub klebte an den Schuhen, wir gingen schweigend einen kleinen Weg außerhalb des Dorfes am Wald entlang. Frederic wollte den Arm um Julies Hüften legen, aber sie machte sich los. Bald gingen wir wieder in den Ort. Die Häuser waren heruntergekommen, manche hatten zerbrochene Fensterscheiben und standen leer. Meine Kleider waren trotz eines Regenschirms klamm und ich hustete.
„Wir hätten gar nicht erst rausgehen sollen“, sagte Julie.
Wir setzten uns in den Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss des Hotels. Das Schweigen war mir unangenehm, aber ich wusste nicht, was sagen. Frederic machte eine Geste, dass Julie sich auf seinen Schoß setzen solle, aber sie bemerkte es nicht oder tat so und setzte sich auf einen freien Stuhl. Frederic atmete entnervt aus.
„Wir sollten noch was machen“, sagte er.
„Ich bleibe hier“, sagte Julie. Ich hatte Frederic noch nie von Julie getrennt erlebt. Er sagte, komm, wir gehen in irgendeine Bar, wir werden schon etwas finden. Mir missfiel der Gedanke. Es war noch nicht sehr spät, aber es wurde schon dunkel. Frederic machte nicht den Eindruck reden zu wollen. Seine Schritte waren schnell und aggressiv.
Die Bar war in einem Gebäude, dass sich unauffällig in den Straßenzug einfügte. Drinnen war es stickig und dunkel. An einem Tisch saßen zwei ältere Männer und rauchten. Frederic ging zum Tresen und setzte sich, ich setzte mich neben ihn.
Einer der Männer stand vom Tisch auf. Frederic rief etwas auf Tschechisch, er sah mich an, als wolle er Lob. Der Mann ging hinter den Tresen, scheinbar verstand er Frederic nicht, der andere Mann lachte. Frederic bestellte auf Englisch.

„Früher haben hier alle deutsch gesprochen“, sagte Frederic. „Aber jetzt leben hier keine Deutschen mehr.“
Ich zündete mir eine Zigarette an und wir schwiegen.
„Es ist nicht gut“, sagte er nach einer Weile. „Seid wir in Tschechien sind, ist es noch schlimmer.“
„Wie meinst du das?“
„Ich weiß nicht, was sie hat“, sagte er. „Ich weiß nicht, was ich falsch mache.“
„Ich kann es nicht ändern“, sagte ich. Ich hatte wenig Mitleid mit ihm.
Er sah mich an, auf einmal war er wütend.
„Was bist du eigentlich für einer?“, rief er. „Ich kenne dich überhaupt nicht, warum bist du mitgekommen?!“
Ich stand auf und ging zur Tür.
„Idiot!“, rief Frederic.

Es regnete wieder. Ich zog meine Jacke enger und setzte mich auf den hohen Bordstein. Ab und an huschte ein grauer Schemen durch das Licht einer Straßenlaterne, sonst waren die Straßen verlassen und es war sehr still. Einige Fenster waren beleuchtet, in den meisten Häusern war es dunkel.
Ich erinnerte mich an eine Klassenfahrt nach Tschechien. Es hatte jeden Tag geregnet, wir waren mit einem alten Bus in verschiedene Städte gefahren, hatten Museen besucht oder Sehenswürdigkeiten. Einmal waren wir im Wald hinter der Jugendherberge wandern gegangen. Es war kalt gewesen und wir hatten uns verlaufen. Einige Schüler hatten daraufhin gesagt, sie würden sich bei der Schulleitung über den Lehrer beschweren.
Ich wunderte mich, warum mir gerade das in Erinnerung geblieben war. In unserer Jugendherberge hatte es nach Essig gerochen und nur Gemeinschaftstoiletten und Gemeinschaftsduschen gegeben.
Mein bester Freund verliebte sich damals in eine Klassenkameradin. Ich wusste nicht wohin, und saß stundenlang allein auf einer Bank. Ich sah ihn kaum noch, oder mit ihr zusammen. Und dann fühlte ich mich noch einsamer.
Ich erkältete mich stark und der Lehrer wollte mich nach hause schicken, aber ich weigerte mich. Ich musste zu einem Arzt. Der machte nicht viel und verstand kaum um was es ging, er gab mir einen Saft, die Erkältung wurde besser.

Mein Mobiltelefon klingelte. Julie. Sie fragte, wo wir seien, Frederic ginge nicht ans Handy. Ich sagte, irgendwo im Ort, nicht weit vom Hotel. Ob Frederic bei mir sei, wollte sie wissen und ich sagte, nein.
„Dann kannst du auch genauso gut herkommen“, sagte sie.

Julie saß auf dem Bett und hatte die Beine an die Brust gezogen. Ich setzte mich neben sie und sie lehnte sich an mich.
„Er hat mir einen Antrag gemacht“, sagte sie. „Als wir vom Friedhof wiederkamen. Wenn ich mit ihm in einer Stadt bin, bleibt er vor Läden mit Babykleidung stehen und will wissen, was mir davon gefällt.“
Ich steckte mir eine Zigarette an und bot Julie an, mitzurauchen. Sie nahm sich eine Zigarette aus der Packung und ich öffnete das Fenster. Wir rauchten schweigend.
„Ich will nicht heiraten“, sagte Julie dann. „Und ich will auch keine Kinder, ich will nicht mit Frederic alt werden, das wäre schrecklich.“
„Jetzt redest du selbst vom Altwerden“, sagte ich und sie lachte.
„Seine ganzen Freunde haben geheiratet und haben Kinder. Jetzt schicken sie ihm Postkarten von Urlauben an der Ostsee oder sonstwo und schreiben die Namen der Kinder mit lieben Grüßen darunter.“
„Ist es dir nicht wichtig, dass du irgendwas hinterlässt?“
„Wir tun doch alles dafür, dass man uns vergisst“, sagte sie. „Wir werden geboren und wir sterben. Ich will einfach das Leben nicht ändern.“

Frederic kam spät in der Nacht zurück. Er war betrunken und sagte, er lege sich hin, wir sollen doch machen, was wir wollen.
Ich ging. Julie zögerte kurz, dann kam sie mit.

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Kommentare zu diesem Text

fragilfluegelig (49)
(24.11.11)
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 Vessel meinte dazu am 24.11.11:
Blitzeis, Peter Stamm. Dieses Buch möchte ich dir unbedingt empfehlen, wenn du es noch nicht kennst. Mich hat es zum Schreiben gebracht, die erste Geschichte gleich, und ich wusste, sowas will ich auch machen. Ein Jahr ist das jetzt her, vielleicht ein bisschen mehr inzwischen.
Manchen, die hier mit Blut und Whisky um sich werfen, oder mit Rotwein, denen möchte ich einfach mal ein Glas Wasser geben. Nüchtern sein bedeutet, Verantwortung tragen zu müssen. Ich glaube, es ist die Feigheit, die uns in der Passivität hält. Wir flüchten lieber in Bilder. Ich möchte nicht flüchten.
Es macht mich froh, dass dir auch dieser Text zusagt (Ich lächele auch)
Liebe Grüße
Vessel
fragilfluegelig (49) antwortete darauf am 24.11.11:
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Savignon (26)
(26.11.11)
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 Vessel schrieb daraufhin am 26.11.11:
Leisetreter, das ist ein schönes Wort. Das Ungedrängte, Lose macht für mich viel am Reiz und der Herausforderung zu Schreiben aus, es ist etwas, das ich auch beibehalten werde, denke ich. Vielleicht überspanne ich den Boden dabei manchmal und es wird langweilig, ich hoffe aber, dass mir das nicht zu oft passiert :)

 poena (26.11.11)
sehr ansprechener text. die sprache gefällt mir, zieht einen in die morbide endzeitstimmung hinein, die dialoge zupfen einen wieder heraus. schön.
lieben gruß, s

 Vessel äußerte darauf am 26.11.11:
danke! :)
hoor (22)
(22.06.12)
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 Vessel ergänzte dazu am 22.06.12:
oh danke erstmal.
es freut mich sehr, dass du dich eingehend mit dem text beschäftigt hast, und damit auch auf seine schwachstellen aufmerksam machen konntest. ich sehe das im übrigen nicht als mäkelei, und habe versucht mich dem anzunehmen, der text wirkt nun stimmiger auf mich, dank deiner hinweise. (gerade die bar sollte nun etwas subtiler sein)
habe dabei einiges verändert, was zitiert wurde, dass nur, damit sich niemand wundert.

ja also nochmal, danke birger. schön, dass dir der text gefällt, und dass du ihn so genau erfasst hast.

liebe grüße
vessel

 Cassandra (19.09.12)
Mir fehlen einfach die Worte...

 Vessel meinte dazu am 27.04.14:
als ich gerade dabei war, den text noch einmal durchzuschauen (und zu verbessern, wo es in meinen augen nötig war), ist mir aufgefallen, dass ich nie auf deinen kommi&fav reagiert habe. ich hole es jetzt nach. danke fürs lesen :)
Mirror (41)
(27.04.14)
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 Vessel meinte dazu am 27.04.14:
ist ok.
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