Früher...

Text

von  Watsche

Früher habe ich Dinge ernst gemeint. Ich ging durch die Straßen und auf meiner Stirn war eine tiefe Falte. Eigentlich war ich Etwas, was aus dieser Falte gekrochen war. Sie war so tief, dass ich keinen Geldbeutel brauchte und Geld und Papiere in ihr aufbewahren konnte. Die Sonne schien durch gräuliche Wolken und das war auch gut so. Ich mochte Grau. Meine Welt war aus unterschiedlichsten Grautönen aufgebaut. Manchmal las ich kluge Bücher oder rechnete Dinge aus. Ich berechnete alles. Ich wusste welchen Umfang jeder meiner Finger und Zehen hatte. Und das alles wusste ich nur durch meine Berechnungen, ein Maßband hatte ich nämlich nicht. Ich aß selten und meistens Dinge, die wie Papier schmeckten, dass einige Tage in Wasser aufgeweicht wurde. Wenn meine Nachbarn mich grüßten, dann schaute ich sie an. So lange, bis sie perplex wegsahen und schließlich gingen. Sie gingen sehr weit weg. Manche kamen nie wieder. Menschen, die keinen Doktor- oder Professortitel hatten, waren für mich nichts wert. Aber auch Doktoren und Professoren waren nicht perfekt. Ich kannte zum Beispiel einen Doktor der rauchte. Und einige Professoren waren sogar so verdorben, dass sie mit den Händen aßen. Aber zurück zu mir. Man nannte mich nie beim Namen. Deswegen wusste ich auch bis zu meinem 15 Lebensjahr nicht wie ich heiße. Danach entdeckte ich es zufällig (es stand auf einem Zettel, den der Wind zu mir wehte), vergaß es dann aber wieder als ich diesen Zettel verlor. Ich nannte mich nie irgendwie. Schließlich gab es nur ein Ich für mich. Manchmal entdeckte ich andere Ichs, aber ich versuchte nicht über sie nachzudenken und so verschwanden sie meist wieder nach einigen Tagen. In meinen Taschen hatte ich immer einige Kupfermünzen um damit streunende Katzen abzuwehren. Speziell für Mäuse hatte ich auch einige leichtere, aus Aluminium gefertigte Münzen. Ihre Leichtigkeit nervte mich, aber es wäre uneffizient solch kleine Tiere mit etwas Schwererem zu bewerfen. Für Insekten hatte ich leider keine passenden Münzen, aber man hatte bei uns in der Stadt schon seit vielen Jahren keine Insekten mehr gesichtet. Die Stadt war zwar nicht besonders klein, aber ich fand nie mehr als zwei oder drei Straßen mit jeweils einigen wenigen, alten Holzhäusern. Ich versuchte bis zu den Enden dieser Straßen zu kommen, um auch mal andere Straßen zu sehen, doch ich fand leider nie ein Ende. Ich wohnte auch in einem alten Holzhaus. Es war grau und das Holz sah aus, wie die Haut eines Tieres aus Holz. Innen war auch alles aus Holz. Die Türen, Boden, Wände, die Möbel und sogar meine Bettwäsche. Mein Bett war ein Klotz. Viele Dinge in meinem Haus waren Klötze. Die Stabilität die sie mir gaben, fühlte sich warm, trocken und etwas staubig an. Allgemein waren warm, trocken und staubig Worte, die meine Umwelt wohl am besten charakterisierten. Meine Umwelt war sehr gut zum Sitzen geeignet. Manchmal saß ich stundenlang da und schaute mir den warmen, trockenen Staub, die warme, staubige Trockenheit und die trockene, staubige Wärme an. Jetzt ist alles anders geworden. Die Stirnfalte war nicht nur ein Ausgang, sondern auch ein Eingang.


Anmerkung von Watsche:

Ein älterer Text. Sprachlich kaum bemerkenswert, aber vielleicht doch für den einen oder anderen ganz amüsant.

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Kommentare zu diesem Text


 MagunSimurgh (22.04.12)
Kennst du "Flächenland"? Dein Schreiben erinnert mich sehr daran.

Liebe Grüße,
F.

 Watsche meinte dazu am 22.04.12:
Ich habe davon gehört, aber noch nicht selber gelesen.
Werde das wohl nachholen müssen. Danke für den Tipp!
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