Unsichtbar

Text zum Thema Ignoranz

von  MrDurden

Drei Jahre sind vergangen, seit diesem sonnigen Morgen im Frühling. Keine Wolke trübte den tiefblauen Himmel, während ich auf dem Weg zur Arbeit durch die Stadt schlenderte. Und als ich die Straße überquerte, konnte ich in den Schatten einer schmalen Seitengasse zwei Männer erkennen. Abrupt blieb ich stehen und sah, wie sie eine junge Frau niederschlugen, auf sie eintraten als sie am Boden lag und versuchten, ihre Handtasche an sich zu reißen. Während mir klar wurde, was da geschah, sah ich weg und machte mich wieder auf den Weg zur Arbeit. Und die Sonne schien, es ging mir gut und schon bald hatte ich dieses Elend vergessen.

Zwei Jahre sind vergangen, seit diesem sonnigen Nachmittag im Sommer. Vereinzelt standen Wolken am Himmel, doch der Arbeitstag war erfolgreich und nichts konnte mir die Laune verderben. Und während ich mich auf den Heimweg machte, sah ich einen alten Mann, der regungslos auf einer Parkbank saß. Seine Kleidung war mit Löchern und Rissen übersäht, sein graues Haar war lang und zerzaust und seine kaputten Schuhe wurden nur noch von abstehendem Klebeband zusammengehalten. Sein Kopf lag zwischen seinen Armen, die er auf seinen Knien verschränkt hatte. Langsam näherte ich mich und versuchte, Atembewegungen an ihm auszumachen. Doch der alte Mann rührte sich nicht. Während mir klar wurde, was da geschehen war, sah ich weg und machte mich wieder auf den Heimweg. Und vereinzelt zogen Wolken vorüber, es ging mir wie immer und schon bald hatte ich dieses Elend vergessen.

Ein Jahr ist vergangen, seit diesem verregneten Abend im Herbst. Schwarze Wolken hatten den Himmel verdunkelt und ein Sturm zog auf. Ich hatte mich für eine Stunde hingelegt, als mich ein ohrenbetäubender Donnerschlag und grelle Blitze aus dem Schlaf rissen. Langsam stand ich auf, rieb mir verschlafen die Augen und nahm einen seltsamen Geruch wahr, der sich allmählich im Raum verbreitete. Also öffnete ich ein Fenster, sah hinaus und bemerkte etwa zwanzig Nachbarn, die wie gebannt auf das Erdgeschoss meines Hauses starrten. Beunruhigt streifte ich mir eine Jacke über, ging nach unten und sah, wie schwarzer Qualm über die Treppe nach oben stieg. Mit den Händen über Mund und Nase stolperte ich aus der Haustür, als bereits die gesamte Vorderseite meines Zuhauses in Flammen stand. Während den Schaulustigen klar wurde, was da geschah, sahen sie weg und verschwanden in ihren Häusern. Und schwarzer Regen fiel vom Himmel, ich hatte alles verloren, doch schon bald hatten die Menschen dieses Elend vergessen.

Drei Tage sind vergangen, seit diesem eisigen Schneesturm am heiligen Abend. Der Himmel war durch das Treiben der dicken Schneeflocken nicht zu sehen. Es war kurz vor Mitternacht und ich lag in Decken gehüllt in der Einfahrt einer Tiefgarage. Ohne Arbeit, ohne Obdach, ohne eine Versicherung gegen Blitzeinschlag und ohne die Mittel, meinen restlos abgebrannten Neubau bezahlen zu können, saß ich zitternd auf dem Asphalt und beobachtete die wenigen Menschen, die Weihnachten nicht bei ihren Familien im Warmen verbrachten. Ein paar Münzen lagen in der kleinen Schale vor mir, die schon beinahe unter der Schneedecke verschwunden war. Da ging ein Mann mit frisch polierten, schwarzen Lederschuhen und dickem Wintermantel an mir vorüber und musterte mich verächtlich. Während ihm klar wurde, was mit mir geschah, sah er weg und verschwand im dichten Schneegestöber. Und es schien weder die Sonne, noch ging es mir gut und schon bald hatte der Mann dieses Elend vergessen.

Wenige Minuten sind vergangen, seit dem Notruf eines Fußgängers, der im Neuschnee der Großstadt den leblosen Körper eines Mannes entdeckt hat. Der Fußgänger hielt es nicht für nötig, auf Krankenwagen oder Polizei zu warten. Denn während ihm klar wurde, was da geschehen war, sah er weg und setzte seinen Weg fort. Und die Sonne scheint, es geht ihm gut und schon bald wird er dieses Elend vergessen haben.

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Kommentare zu diesem Text


 princess (12.12.11)
So ist das wohl im Leben. Das Elend kann jederzeit eintreffen. Die Ignoranz auch. Wie schön, dass es daneben noch ein paar angenehmere Facetten gibt. Sonst wäre es ja ... au weia!

Das Beschreibende deines Textes gefällt mir sehr gut, dieses Verzichten auf Urteile und Anklagen und Schuldzuweisungen. Damit ermöglichst du mir, auf eigene Gedanken zu kommen. Ganz von selbst.

Guter Text.

Liebe Grüße, Ira

 MrDurden meinte dazu am 12.12.11:
Freut mich, wenn dir der Text zusagt und danke für den kleinen Tipp Einen schönen Abend wünsche ich noch! David
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