Weihnachten

Kurzprosa zum Thema Behinderung

von  Vessel

There's world in a world outside
They're all the same when you stay inside

Samael

Meine Eltern sitzen mit meinem Bruder auf der Couch. Sie schauen fern, ich sitze irgendwo auf einem Sessel daneben. Irgendwo daneben, aber ich fühle mich ganz weit weg. Das leise Schlürfen meiner Mutter an ihrer Teetasse, die den ganzen Abend nicht leer werden wird, da sie immer nur so kleine Schlucke nimmt, als wolle sie den Tee homöopathisch dosieren, dieses leise Schlürfen zieht mich alle paar Minuten zurück. Das Geschrei, welches die grottenschlechten Lautsprecher des uralten Röhrenbildschirms, von Zeit zu Zeit mit einem leisen Knistern, ausstoßen, kann mich nicht hierhalten – Aber das Schlürfen kann es.
Es ist der zweite Weihnachtsfeiertag. Auf dem Tisch, auf den mein Vater seine Füße, die in dicken, hellgrauen Baumwollsocken mit dunkler Sohle stecken, gelegt hat, steht eine Schale mit Apfelsinen und ein paar Nüssen. Es riecht nicht weihnachtlich. Es riecht nach abgestandenem Kaffee, stickig. Draußen gehen die Straßenlaternen an, die ihr Licht durch halb durchsichtige, graue Vorhänge in die Wohnung drücken. Wieder Schreie im Fernseher. Eine Frau. Vielleicht wird sie ermordet oder sie schläft mit jemandem. Dann eine Weile Ruhe, eine Stimme fängt an zu singen, ich kenne die Melodie. Schlürfen meiner Mutter. Mein Vater brummt.

Mein Bruder steht auf. Er tritt vor. So wie Anwälte in den Gerichtsfilmen vortreten, um zu ihrem finalen Plädoyer anzusetzen, um mit einem letzten Wortschwall die Konkurrenz selbstsicher und endgültig niederzuwalzen.
Aber er sagt nichts. Sein Blick besitzt die gleiche blöde Leere, die er immer besitzt. Seit ihn dieses Auto angefahren hat, hat er diesen dummen Blick. Er schnalzt mit der Zunge und sein Blick richtet sich auf mich. Der Blick bleibt an mir hängen wie Honig, er streckt die Hand aus und geht auf mich zu. Ich stehe auf. Der Aufprall auf das Auto hatte bei ihm Hirnblutungen oder soetwas verursacht. Im Fernseher schreit wieder die Frau, ich dreh mich hin und sehe blanke Titten. Mein Vater grunzt. Meine Mutter schlürft.
Wir gehen in mein Zimmer. Ich gehe wie selbstverständlich zur Anlage. Drehe auf. Die tiefe, verzerrte Stimme beruhigt mich. Ich drehe lauter. Mein Bruder stellt sich hinter mich. Ich drehe mich um. Er sieht mich ausdruckslos an. Dann schlägt er mich.
Ich schreie irgendwas. Etwas wie „fick dich!“ oder „Arschloch!“ Die Anlage ist so laut, dass ich mich selbst nicht höre. Die Knöchel seiner Hand werden rote Abdrücke an meiner Wange hinterlassen.
Ich schreie ihn wieder an, aber sein Gesicht bleibt das gleiche dumme Gesicht. Die eine Gesichtshälfte ist gelähmt, die Mundwinkel hängen nach unten, doch wenn man sich daran gewöhnt hat, sieht man einfach nur noch Leere.
Er steckt seine Hände unter den Bund seiner Jeans. Er fummelt am Reißverschluss herum, öffnet ihn. Er zieht seine Hosen herunter und tritt ganz eng an mich heran und berührt mich. Ich stoße ihn zurück.
Eine Sekunde steht er still da, dann greift er meine Hände. Er schiebt mich nach hinten, zur Wand – nein, zum Fenster. Ich befreie meine Hände, drehe mich um und mache das Fenster auf. Ganz auf. Ich stehe mit dem Rücken zu ihm, vor mir das offene Fenster. Er greift nach mir, umfasst meine Hüften und presst sich an mich. Ich gehe einen Schritt zur Seite und er dreht sich mit mir. Ich drehe mich auf den Zehenspitzen, wie die im Ballett. So stehe ich vor ihm und er mit dem Rücken zum Fenster und er sieht mich mit dem leeren, dummen Blick an. Dann scheint er zu verstehen. Es ist, als würde sein Gesicht erhellt. Seine Mundwinkel bleiben nach unten gebogen, seine schiefen Zähne schimmern durch. Aber das Gesicht zeigt etwas neues. Erkenntnis. Verstehen. Er hebt die Hand wie ein Schüler, der sich meldet weil er etwas zu wissen glaubt und dann winkt er nur und geht einen Schritt rückwärts, hin zum offenen Fenster und noch einen. Er beugt sich nach hinten, aus dem Fenster hinaus und dann ist er verschwunden.
Ich gehe vor, schließe das Fenster nicht, ich gehe nur hin und setze mich auf den Boden. Elektronischer Beat. Durch das offene Fenster zieht die kalte Nachtluft des Winters ungehindert ins Zimmer, sie fängt sich in den hellblauen Vorhängen, die das Fenster einrahmen und sich aufblähen und dann wieder zusammensacken.

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Kommentare zu diesem Text

fragilfluegelig (49)
(27.12.11)
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 Vessel meinte dazu am 29.12.11:
Auch dieser Test ist, wie alles von mir, Fiktion. Es ist schön, dass er dich fesseln konnte!
ues (34)
(27.12.11)
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 Vessel antwortete darauf am 07.01.12:
danke ues! fürs lesen, fürs verstehen. "alle sind alles" ist gut!

 Lluviagata (27.12.11)
Super spannend! So muss eine Geschichte sein. Sie muss dich fesseln, atemlos machen und am Ende etwas ratlos zurücklassen, auf dass die Gedanken weitermachen ...
Lu ♥

 Vessel schrieb daraufhin am 07.01.12:
danke!
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