Alan - Teil 1

Kurzgeschichte zum Thema Kinder/ Kindheit

von  MrDurden

Manchmal gehe ich mittags nicht gleich nach Hause. Dann setze ich mich auf diese lange Mauer am Flussufer des Detroit River und esse mein Pausenbrot, das ich mir extra aufgehoben habe. Wenn man genau hinsieht, kommt es einem vor, als würde das Wasser an manchen Stellen gegen den Strom fließen. Aber es ist Herbst und zu kalt, um hineinzuspringen und herauszufinden, welchen Weg diese riesige, flüssige Schlange nimmt. Vielleicht hat sie keinen Anfang und kein Ende. Vielleicht bewegt sie sich im Kreis und niemand außer mir weiß davon. Vielleicht wissen es all die Möwen, die piepsend und krächzend an mir vorbeisegeln. Doch wer glaubt schon einer Möwe? Die versteht man ja auch nicht wirklich.

Mein Name ist Alan und ich bin fünf Jahre alt. Ich gehe noch in den Kindergarten und kann deswegen auch nicht besonders gut schreiben. Aber vor ein paar Tagen hat meine Mutter mir ein kleines Lederbuch mit magischen Seiten geschenkt. Ich mag es, Menschen und alle möglichen Dinge zu beobachten. Und sobald ich mir die Worte vorstelle, erscheinen sie auf den leeren Seiten des kleinen Lederbuchs. Bis jetzt kann man da nur ein paar Zeilen über einen Fluss und Möwen lesen. Doch vielleicht schaffe ich es, heute noch etwas spannendes zu erleben.

Also schlängelt sich die riesige, flüssige Schlange um die vielen Städte der Menschen, während Möwen über ihr kreisen und unter ihrer durchsichtigen Haut nach kleinen Fischen suchen. Einige der weißen Vögel sitzen auch nur auf der unruhigen Oberfläche und warten sehnsüchtig auf ein Stückchen von meinem Pausenbrot. Ich habe sowieso nicht viel Hunger. Damit sie nicht um jeden Bissen kämpfen müssen, teile ich es in viele winzige Bröckchen und werfe sie in hohem Bogen auf die Wasserschlange. Und die Brotstreichkünste meiner Mutter scheinen ihnen zu schmecken. Eine der Möwen segelt sogar auf mich zu, setzt sich neben mich und bedankt sich mit einem schrillen Krächzen.

Plötzlich tippt jemand mit dem Finger auf meine Schulter. Es ist ein älterer Mann und er scheint arm zu sein. Mit seinen tiefen Falten sieht er aus, als wäre er schon viele Hundert Jahre alt und seine Haare strecken sich zerzaust in alle Himmelsrichtungen. Der Mann sieht mich grimmig an und fragt, wo denn meine Eltern seien. Am Fluss zu spielen sei für einen kleinen Jungen wie mich doch viel zu gefährlich. Also sehe ich tief in seine zusammengekniffenen Augen und antworte ihm, weil man zu alten Menschen immer höflich sein soll.

„Meine Mutter hat gesagt, ich soll nicht mit fremden Leuten reden. Und sie hat auch gesagt, dass man sich immer kämmen muss, sonst kommt eine Maus und baut ihr Nest auf deinem Kopf!“

Einen Augenblick lang sieht mich der arme, alte Mann verdutzt an und beginnt plötzlich ganz laut zu lachen. Er lacht so unglaublich laut, dass er sich den Bauch hält und seinen krummen Körper an der langen Flussmauer abstützen muss. Vielleicht ist er plötzlich verrückt geworden. Oder vielleicht krank? Als ich ihn frage, ob ich Hilfe holen soll, lacht er noch herzhafter und geht beinahe vor mir auf die Knie. Ein seltsamer Mann. Vielleicht tut ihm meine Gesellschaft nicht gut. Also beschließe ich, weiterzugehen.

Die Möwen sind satt, der Fluss schlängelt umher und noch eine ganze Weile lang höre ich den armen, alten Mann hinter mir lachen. Vielleicht hört er auf den Rat meiner Mutter und kämmt sich mal. Und hoffentlich wird er bald wieder gesund.

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