Marathon

Epos zum Thema Lebenseinstellung

von  Dieter_Rotmund

Ein Ministerpräsident schießt in die Luft und ich laufe los. Außer mir laufen noch viele andere Menschen los und lassen den Ministerpräsidenten stehen. Der Ministerpräsident hat seine Schuldigkeit getan, der Ministerpräsident darf gehen. Die Menschen, die loslaufen, sind nicht wegen des Ministerpräsidenten gekommen, den Schuss nehmen sie jedoch dankbar zur Kenntnis. Es ist auch keine richtige Pistole und streng genommen laufe ich nicht sofort los. Ich habe mich ziemlich weit hinten in den Pulk der etwa 1500 Menschen hingestellt und es vergehen noch fast zwei Minuten, bis ich am Ministerpräsidenten vorbeilaufe. Für den Ministerpräsidenten habe ich kein Auge, wie man so sagt, ich schaue auf meine Armbanduhr und drücke auf „Start“. Dass ich erst zwei Minuten nach dem Schuss die Startlinie überquere, macht nichts, ich habe einen Chip an meinem rechten Schuh, der die Zeitmessung für mich erst dann auslöst, wenn ich tatsächlich die Linie überquere. Es macht ein unangenehmes Piepgeräusch, ist aber irgendwie beruhigend. Es bedeutet: Jetzt geht‘ s los. Mein erster Marathon seit neun Jahren, mein etwa zwölfter seit 1989. 42,195 Kilometer zu laufen ist Kopfsache. Meine Nervosität ist weg, sie war zwei bis drei Tage vor dem Start am stärksten. Am Wettkampftag selbst ist alles Routine, zu oft habe ich schon an Volksläufen teilgenommen. Startunterlagen abholen, Umziehen, Startnummer fixeren, auf‘s Klo gehen, ein wenig Warmlaufen, dann zum Start, die Schuhe ein zweites Mal binden, bekannte Gesichter entdecken, den Startschuss abwarten. Manchmal wird laut heruntergezählt. Die Abläufe sind wie alte Bekannte. Ein Marathon ist aber mehr als die Summe aus zwei Halbmarathons. Wenn der Kopf nicht mitspielt, ist die Moral weg und dann wird es eine mühsame Schinderei. Eigentlich ist es immer eine Schinderei, deshalb mache ich ja mit. Der eigentliche Gegner beim Marathon ist das, was viele den „Inneren Schweinehund“ nennen, aber man ist es doch nur selbst. Kurz nach dem Startschuss des Ministerpräsidenten habe ich noch keine Selbstzweifel. Ich laufe betont locker los und halte mich zurück. Meine Erfahrungen auf den letzten fünf Volksläufen, die ich im Winter gemacht habe, zeigen: Wenn ich zu schnell loslaufe, macht meine Muskulatur sofort zu und geht nicht mehr auf. Meine Stoppuhr bei Kilometer 1 sagt, dass ich trotzdem genau den Schnitt laufe, den ich laufen möchte. Die Zeit pro Kilometer, die für eine Gesamtzeit von unter 4 Stunden im Ziel ausreicht. Das wäre schön, damit wäre ich zufrieden.
Es ist kein Stadtmarathon, den ich laufe, kein Massenrun mit fünfstelligen Teilnehmerzahlen durch enge Häuserschluchten, wo alle 500 Meter eine andere Blaskapelle steht und dröhnt. Es ist ein Marathon, der über‘s Land führt und durch den Wald. Es dauert dennoch bis Kilometer 5 bis sich das Feld etwas entzerrt hat, bis etwas mehr Platz zwischen mir und den anderen Läufern ist. Bei den Massenmarathons passiert das nie, da laufen die Menschen immer ganz eng beieinander, das ist beängstigend. Nach Kilometer fünf geht es in den Wald, den wir, die Läufer, nur noch punktuell verlassen werden. Schon zwei Kilometer zuvor stellten sich Teilnehmer an den Streckenrand, um zu pinkeln. Das geht die ganze Zeit so. Ein besonders blasenschwacher in einem orangefarbenen Trikot macht dass alle paar Kilometer, alle paar Kilometer sehe ich ihn am Straßenrand pinkeln, ich laufe vorbei und dann überholt er mich wieder. „Pinkelmarathon“ nenne ich den Lauf zu mir selbst scherzhaft. Ab Kilometer 10 beginne ich an den Verpflegungsstationen zu trinken, für Kilometer 15 habe ich vom Veranstalter ein eigene Flasche deponieren lassen. Nichts besonderes ist in ihr drin, ein halbe Magnesium-Brausetablette in Wasser aufgelöst. Sie steht zwar schon bei Kilometer 13, aber das macht nichts. In diesem Kilometerbereich wird es auf einen Schlag einsamer. Der Grund ist die Stelle, an der diejenigen abbiegen, die einen Halbmarathon laufen wollen. Im Läuferjargon heißt die Stelle „Marathonweiche“. Das klingt wie manche nach dem Erreichen des Ziels aussehen. Zuvor kamen mir schon einige Läufer entgegen, es wird nicht die letzte Stelle mit Wendepunktcharakter bleiben. Ich bin froh, dass diese Sprinter keinen Vollmarathon laufen, sich nicht in meinem Wettbewerb befinden. Die ganze Zeit über treibe ich, so mein Eindruck, den Pulk vor mich her, der sich um die Zugläuferin für ein Gesamtzeit von knapp 4 Stunden gebildet hat. Zugläufer sind vom Veranstalter, sollen eine ganz bestimmte Zeit laufen und dies deutlich zeigen. Es steht auf ihrem T-Shirt und auf einem Luftballon, den sie mitführt, der über ihr schwebt. Ab Kilometer 15 sehe ich den Ballon nicht mehr. Beim zweiten Wendepunkt wird mir klar, warum: Dem Ballon ist die Luft ausgegangen, er schleift am Boden. Der Weg ist inzwischen arg löchrig geworden, das macht es mühsamer, trotzdem bin ich bis auf 50 Meter an diesen Unter-4Stunden-Pulk herangelaufen. Dann wird der Weg wieder besser, aber es fühlt sich trotzdem noch mühsam an. Bei Kilometer 21,1 gibt es wieder so eine Matte für die elektronische Zeitmessung und es macht wieder „Piep“ unter meinen Füßen. Ich schaue auf meine Uhr: 1 Stunde 59 Minuten. Das hört sich gut an, aber für die Hälfte der Strecke bin ich schon etwas zu erschöpft. Die nächsten paar Kilometer hadere ich mit mir, ob es noch für eine 3:59 reichen könnte oder nicht. Es ist schon wieder Wendepunktzeit, mir kommen Läufer entgegen, die gefühlte Lichtjahre voraus sind. Den sogenannten „Besenwagen“´, der hinter dem langsamsten Läufer hinterherfährt, werde ich dadurch noch einige Male sehen können. Ich fange an, andere Läufer als Maßstab zu nehmen: Den einen will ich nicht davon laufen lassen, andere in einiger Entfernung vor mir nehme ich als zu überholendes Ziel. Um den letzten Wendepunkt herum geht es mir wieder etwas besser und ich schüttele ein paar Läufer ab, die eine ganze Weile in dem Bereich um mich herum waren. Kurz darauf beginnt es mich zu nerven, dass mir noch einige Kilometer weit Läufer entgegen kommen werden. Ich will ohne Gegenverkehr laufen. Meine Oberschenkel werden schwer und müde. Bei Kilometer 30 muss ich schlussendlich einsehen: Für eine 3:59 wird es nicht reichen. Ich bin willig, aber mein Fleisch ist schwach. Wenn ich das Tempo auch nur mäßig erhöhe, beginnen meine Beine den Dienst zu versagen, um es blumig auszudrücken. Ich versuche mich an einem noch halbwegs anständigen und vor allem konstanten Tempo. Ich muss meine Motivation neu ausrichten: Keine 3:59 mehr, aber noch durchlaufen, nicht einbrechen. Die Schwerkraft zerrt mich nach unten. Ich sehe Läufer, die beginnen zu gehen. Das möchte ich nicht, ich fürchte, dass mir danach gar kein Laufen mehr möglich ist. Endlich ist der Wendepunktmist vorbei und eine sehr lange Gerade folgt. Es sind im meinem Bereich nur noch so vier bis fünf Läufer auf 100 Metern. Stellenweise wird mir schummrig, ich beginne an den euphemistisch  „Verpflegungsstellen“  genannten Orten Cola zu trinken, das hilft etwas. Schon seit Kilometer 32 laufe ich nur noch von Kilometerschild zu Kilometerschild und verdränge die restliche Strecke. Ich denke, ich mache es so, wie es auch im wirklichen Leben funktioniert hat: Nicht so sehr und so oft an das große Ziel in der weiter Ferne denken, sondern kleine Schritte dorthin machen, einen nach dem anderen. Das klingt nach dem Mantra für Drogenabhängige in Entzugskliniken, passt aber auch auf Marathonlaufen.  Kilometer 37. Ab Kilometer 37 denke ich: Nur noch läppische 5,4,3... und so weiter Kilometer, je nach Schild. Ich vergleiche sie mit den entsprechenden Stellen auf meiner Lieblingstrainingsstrecke. Die ist auch im Wald und hat auch lange Geraden. Bei den Grundlagenausdauer-Trainingsläufen war die 5-Kilometermarke für mich immer so eine Stelle, da dachte ich, da denke ich, so, jetzt geht es nach Hause. Wasser, Dusche, Essen, Sofa, Fernseher. In der Reihenfolge. Aber noch bin ich erst bei Kilometer So-und-so. Zwischen 38 und 39 verliere ich etwas an Orientierung und kann mich nicht mehr erinnern, was auf dem letzten Schild stand. Meine Oberschenkel fühlen sich inzwischen an wie mit Beton ausgegossen. Ein Läufer passiert mich, der zu seinem Kumpel sagt, er würde erst ab Kilometer 30 warmlaufen. So ein Arsch! Hier und da überholen mich noch ein paar  Läufer, das respektiere ich, die haben ihre Kraft offenbar besser eingeteilt als ich. Wirklich ärgerlich ist die Frau, die mich überholt und die hinten auf ihrem Trikot stehen hat: „Was heißt hier, Gott sei tot, ich habe doch gerade noch eben mit ihm gesprochen“. Diese Jesusläufer sieht man inzwischen überall und sie gehen mir auf dem Sack. Was bitte hat denn Jesus oder irgendeine andere der dämlichen Religionen mit dem Laufsport zu tun? Dieses Jesus selbst trug angeblich nur Sandalen und die sind zum Laufen nachweislich völlig ungeeignet. Außerdem sind die Laufstrecken meistens trocken. Ich fluche innerlich, denn mein erschöpfter Körper lässt zu, dass ich die Jesusläuferin ziehen lassen muss. Immerhin kommt der Zielbogen im Leichtathletikstadion nun in Sicht. Das baut mich auf. Ein paar Halbmarathonläufer aus meinem Lauftreff stehen am Streckenrand und feuern mich an. Das ist sehr nett und der weiche Stadionboden ist auch sehr angenehm. Die letzten paar hundert Meter kann ich tatsächlich noch etwas zulegen an Geschwindigkeit. Das bringt nicht viel, fühlt sich aber gut an. Meine Stoppuhr zeigt 4 Stunden 11 Minuten an. Naja, schnell ist das nicht. Dann piepst es ein letztes Mal, ich bin durch und freue mich darüber. Ich trinke ein weiteres  Elektrolytgetränk, es schmeckt grauenhaft, wie konnte ich unterwegs überhaupt sowas trinken! Viel besser hingegen ist das kühle Hefeweizen. Ich setzte mich mit dem Bier etwas abseits und schaue mir noch eine Weile die anderen Marathonläufer an, die ins Ziel wanken.





Anmerkung von Dieter_Rotmund:

Der Inhalt ist zwar authentisch, der Text soll und darf aber durchaus literaturkritisch gelesen werden. Anders gesagt: Ich werde sicherlich nicht damit  argumentieren, dass "es aber genau so gewesen" sei. Vielmehr war mein Wunsch, einen unterhaltsamen Text geschrieben zu haben.
Die Genrebezeichnung und das Schlagwort ("Thema") sind wie immer mehr oder weniger willkürlich gewählt.

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Kommentare zu diesem Text

Caty (71)
(13.03.12)
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 Dieter_Rotmund meinte dazu am 13.03.12:
Vielen Dank für die Empfehlung.
Nun, bei Kilometer 20,5 auszuscheiden ist in der Tat bedauerlich, bieten doch viele Veranstalter, die Halb- und Vollmarathon gemeinsam starten, an, dass Läufer, die sich für die ganzen 42,195 km gemeldet haben, dann doch sich auf Halbmarathon umentscheiden können und dürfen, eben an der geschilderten, sog. Marathonweiche. Dann würden dem armen Bei-20,5km-Ausscheider nur noch 600m gefehlt haben, um das Ganze noch irgendwie halbwegs anständig beendet haben zu können...
magenta (65)
(13.03.12)
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 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 14.03.12:
Vorsicht magenta, was das Leiden anbetrifft, so holen die Frauen schnell die Super-Über-Matyriums-Leidens-Keule einer Geburt raus und wollen damit die Quäl-Liga anführen...

Dass mit dem 10km Schulweg zu Fuß hat sich inzwischen als übliche "legend" afrikanischer Läufer so penetrant etabliert, dass ich dem grundsätzlich keinen Glauben mehr schenke. Schnell sind sie trotzdem, aber das liegt an der guten Nachwuchsförderung, z.B. in Eldoret.
Ich habe übrigens schon mit so schnellen Afrikanern kurz nach ihrem Marathon hinter der Ziellinie gesprochen, bzw. es versucht, die sind schon ziemlich fix und fertig!

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 15.03.12:
Abschließend muss ich einsehen: Der Text ist für Nicht-Läufer doch weitgehend uninteressant, insofern bin ich ein wenig gescheitert, falls das geht, "ein wenig scheitern"...
Regentrude (52)
(02.04.12)
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 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 02.04.12:
Hallo Regentrude,

vielen Dank für Empfehlung und Kommentierung!
Ich habe mir daraufhin den Text nochmals kritisch durchgelesen. Das mit den Absätzen ist insofern schwierig, das das Thema ansich eigentlich keine Absätze haben will, andererseites heutige Lesegewohnheiten sehr viele Absätze fordert. Beruflich mache ich mehr Absätze, auch wenn es mir oft übertrieben scheint. Grundsätzlich ist das mit den "Atempausen" aber wohl richtig, man könnte natürlich noch andere stilistische Mittel dafür nehmen (?).
Aufgefallen ist mir nun auch, dass der Text durch die Schilderung von anderen Menschen tatsächlich an Unterhaltsamkeit gewinnt. Ich muss nur aufpassen, dass sich da niemand wiedererkennt... Denn der Marathonkenner hat den Ort des Marathons problemlos erkannt, wenn ich da evtl. noch Startnummer nenne, ist der z.B. Oft-Pinkler über die Ergebnisliste problemlos identifzierbar. Aber ich kann ja hier und da kleine Details varieren, dann erkennt sich niemand mehr.
Und ja, das sind einige stilitische Schlampigkeiten oder zumindest Unschärfen im Text. Für eine Printveröffentlichugn wünsche ich mir dann doch einen guten Korrekturleser, bevor er in den Druck geht.
"Gut Socks" kenne ich nicht. Gibt es überhaupt einen speziellen Läufergruß?
Vielen Dank für das Lob, mir ist dabei aufgefallen, dass Marathonläufer oft als "schwitzend" und "atemlos" wahrgenommen werden, ironischerweise schwitzt man gerade beim Marathon auf den Kilometer ungerechnet eher weniger und die Herzfrequenz ist auch niedriger als z.B. bei einem 10er. Nunja.
Vielleicht mache ich einen Osterlauf mit. Aber nur, wenn's das Wetter mal wieder normal wird, es ist verdammt staubig geworden in den letzten Wochen!

 Elisabeth (12.11.23, 18:46)
Lieber Dieter,

dieses Epos (ich würde es wahrscheinlich einfach 'Geschichte' nennen), hat mir sehr gut gefallen. Da es eine beeindruckende Leistung ist, einen Marathon-Lauf auch zu beenden, ist Epos aber vermutlich angemessener.

Dein Text hat mich mitgezogen, ja, auch ich vermisse / vermisste Absätze, aber ich verstehe auch, warum es kaum welche gibt.

Das könnte man natürlich auch einem Leser klar machen, der die hier schon stehenden Kommentare nicht gelesen hat, indem man nach dem Zieleinlauf umbruchtechnisch das Tempo ebenfalls rausnimmt, etwa vor dem drittletzten Satz, also nach dem letzten Piepen.

Wie der Marathonläufer aber nach der guten Hälfte nur noch seines Willens wegen weiter kann, sind mir ab da ein paar Rechtschreibfehler aufgefallen, die ich Dir privat schicke - auch wenn ich nicht Dein Lektor bin und auch wenn dieser Text nicht aktuell ist, aber ich denke, echte Schreibfehler können auch bei älteren Texten noch getilgt werden, gerade wenn sie öffentlich zugänglich sind. Es müssen ja nicht Bücher eingestampft und neu gedruckt werden, hier reichten zehn Minuten in der Editionsoberfläche.

Sehr schön, mal was Längeres von Dir zu lesen - und ich finde, Du bist ein guter Erzähler.

Schöne Grüße von Elisabeth / Bettina

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 26.11.23 um 16:26:
Danke, diese und weitere einzwei Fehler habe ich inzwischen korrigiert.

 Elisabeth meinte dazu am 05.12.23 um 15:47:
Bitteschön.
Es freut mich, daß ich helfen konnte.
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