Mary und der Engel - Teil 1

Kurzgeschichte zum Thema Glaube

von  MrDurden

„Komm schon, Jake! Sei doch nicht immer so ein Feigling! Du musst nur springen, das ist alles!“

Das sagt sie so leicht. Sie ist ja auch schon elf Jahre alt. Ich bin erst fünf und meine Beine sind viel zu kurz für so einen Sprung. Ich habe Angst, furchtbare Angst. Aber das soll sie nicht wissen. Ich muss Mary zeigen, dass ihr kleiner Bruder kein Feigling ist. Also gehe ich ein paar Schritte zurück, laufe so schnell ich kann in Richtung Wasser, mache ganz fest meine Augen zu und springe. Alles wird still. Nur der Wind ist zu hören, der um meine Ohren braust. Wenn ich mich vom Boden löse und die Augen schließe, dann fühlt es sich an, als würde mich irgendetwas tragen. Als ob mich etwas Unsichtbares führt und mich erst wieder loslässt, wenn alles überstanden ist und ich am richtigen Ort gelandet bin. Meine Turnschuhe treffen wieder auf den harten Boden. Ich erschrecke und mache schnell wieder die Augen auf.

„Siehst du, war doch gar nicht so schlimm! Du kleiner Angsthase.“

Ich bin kein Angsthase. So ein Sprung über einen Bach ist gar nicht so leicht wie man sich das vorstellt. Hinter mir plätschert das Wasser den kleinen Hügel hinunter und ich bin stolz auf mich. So weit hab ich es noch nie geschafft. Mary macht sich trotzdem immer lustig über mich. Nur, weil sie größer ist und mehr weiß als ich. Aber ich mag sie trotzdem. Manchmal sogar mehr als Mom. Hastig klopfe ich meine schmutzigen Hände an meiner noch dreckigeren Hose ab. Die Sonne geht langsam unter. Wir beide wissen, dass wir zu Hause sein müssen, bevor es dunkel ist.

„Mom wird bestimmt böse, wenn wir wieder zu spät kommen.“

Meine Schwester zieht ihre Augenbrauen nach oben, streicht ihr schwarzes Haar hinter ihre Ohren und geht tiefer in den Wald. Sie hört nicht auf mich. Eigentlich hört sie auf niemanden. Nicht einmal, wenn sie weiß, dass sie etwas falsch gemacht hat. Ihr leuchtend rotes Kleid verschwindet zwischen den vielen Bäumen und ich kann nur noch ihrer Stimme folgen.

„Du musst nicht immer auf alles hören, das Mom sagt. Mach einfach mal was du willst, kleiner Bruder.“

Der Wald wird immer dichter und dunkler. Wieder bekomme ich Angst und will nur noch nach Hause. Aber das interessiert Mary nicht. Manchmal macht sie falsche Sachen. Nur, um Leute zu ärgern. Und manchmal sagt sie Dinge, die sie eigentlich gar nicht so meint. Und das auch nur, um Leute zu ärgern. Manchmal sagt sie, dass ich ihr auf die Nerven gehe. Dass sie mich nicht leiden kann und dass ich ein Dummkopf bin. An anderen Tagen weint sie dann und entschuldigt sich dafür. Dann ist sie unheimlich nett zu mir und macht mir sogar was zu essen oder erzählt mir Geschichten. Heute ist nicht so ein Tag. Die Sonne ist fast hinter all den Bäumen verschwunden. Langsam wird es kalt und ich bekomme Hunger. Aber Mary geht weiter.

„Warte, bleib stehen! Wir dürfen nicht so weit von der Straße weggehen! Bitte Mary, gehen wir nach Hause!“

Ängstlich laufe ich ihr hinterher, springe über Steine und Äste und versuche, meine Schwester nicht zu verlieren. Mein Herz pocht immer schneller. Wir haben uns längst verirrt und auch Marys Stimme kann ich nicht mehr hören.

„Ich hab mich verlaufen! Bitte sag was, Mary!“

Wenn ich weine, lacht sie mich aus. Aber ich kann nicht anders und dicke Tränen kullern über meine Wangen. Sogar die Bäume verschwinden in der Dunkelheit. Und plötzlich ist alles still. Vor lauter Angst kann ich fast nicht atmen. Alleine werde ich nie den Weg zurück finden. Aber vielleicht muss ich es nur wie beim Springen machen. Zitternd setze ich mich auf den Waldboden und mache ganz fest meine Augen zu. Vielleicht kommt etwas Unsichtbares und trägt mich. Vielleicht führt es mich und lässt mich erst wieder los, wenn alles überstanden ist und ich am richtigen Ort gelandet bin.

Eine ganze Weile lang passiert gar nichts. Also mache ich meine Augen wieder auf und sehe mich um. Da leuchtet etwas, nur ein kleines Stück von mir entfernt. Es sieht aus wie eine runde Glühbirne, die über dem Boden schwebt. Und es wirft einen hellen Schein auf die ganze Umgebung. Je näher ich dem kleinen Ding komme, desto wärmer wird die Luft. Irgendwie mag ich es, habe keine Angst vor ihm. Ich stelle mich direkt vor das schwebende Licht und strecke meine Hand aus, um es zu berühren. Plötzlich bewegt es sich und fliegt durch all die Bäume hindurch, als wären sie gar nicht da.

„Warte auf mich! Nicht so schnell, ich tu dir nichts!“

Vielleicht ist es ein Glühwürmchen. Aber die können nicht durch Sachen fliegen. Und warm sind die auch nicht. Vielleicht ist es eine Sternschnuppe. Aber ich glaube, die fliegen nur am Himmel rum. Ich folge dem kleinen Licht, bis meine Füße weh tun. Auf einmal trete ich auf festen Boden. Noch immer kann ich fast nichts sehen. Aber ich glaube, ich habe die Straße wiedergefunden.

„Kleines Licht! Warte doch!“

Langsam schwebt es die Straße entlang. Immer höher, bis es zwischen den Sternen am Nachthimmel verschwunden ist. Erstaunt sehe ich nach oben. Was mag das wohl gewesen sein?

„Da bist du ja! Wo warst du denn die ganze Zeit?“

Ich zucke zusammen. Wieder kullern dicke Tränen über meine Wangen. Ihr rotes Kleid erkenne ich sogar in stockdunkler Nacht.

„Du sollst mich nicht immer alleine lassen, Mary. Hast du das kleine Licht denn nicht gesehen?“

Mit großen Augen deute ich in Richtung Himmel. Sie lacht nur und nennt mich einen Dummkopf, wie sie es immer tut. Ich erkläre ihr, dass es kein Stern war. Dass es mir den Weg aus dem Wald gezeigt hat. Sie glaubt mir nicht. Nie glaubt sie mir irgendwas. Also machen wir uns auf den Heimweg. Sie nennt mich einen Angsthasen und macht sich lustig über mich. Manchmal lässt sie mich alleine und sagt Dinge, die sie eigentlich gar nicht so meint. Aber ich mag sie trotzdem. Und manchmal sogar mehr als Mom.

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