Lenz im Frühtau

Kalendergeschichte zum Thema Jahreszeiten

von  ZAlfred



"Tititirri, tititirri", rief der Kleiber im Busch über Robert. Die Antwort der Amsel schallte von der anderen Seite der Waldlichtung aus einem blütenlosen Holunderstrauch: "Tsink tsink, tsink-tsink, duk duk duk, tix tix." Der schlanke, schwarz-braune Vogel flatterte aufgeregt von einem Zweig zum anderen. Drüben im Eichenhain tirilierte ein vorwitziges Rotkehlchen. Mit seinem lauten, aufgeregt schnickenden 'Zick zick zick, zickzick' stimmte es in den Vogelstimmenchor ein.

***Wie wunderbar war es doch, in Gottes schöner Landschaft aufzuwachen! Robert rieb sich die Augen, setzte die Brille auf und spähte vorsichtig durch das dichte Gebüsch zur Wiese hinüber. Alles in ihm verlangte danach, als Erstes zu ergründen, was die Vögel so in Aufruhr versetzt hatte.

***Eine Füchsin tollte mit ihrem Wurf Welpen über die taufeuchte Wiese. Andächtig betrachtete Robert das stimmungsvolle Schauspiel. Die drei Kleinen spielten Anschleichen, Anspringen und Schwanzjagen. Wie unbeholfen sich die jungen Räuber balgten! Gleichzeitig suchte die Mutter wachsamen Auges den Waldrand ab, sich stets einer drohenden Gefahr für Leib und Leben ihrer Rasselbande gewiss. Doch die Natur hatte alles wohlgerichtet. Kein Greif kreiste zu dieser frühen Stunde hoch in den Lüften. Selbst der harmlose, schlaftrunkene Zuschauer beeinträchtigte das Familienidyll nicht.

***Nur die Singvögel fühlten sich durch die Anwesenheit der räuberischen Sippe auf ihrer Lichtung gestört. So früh im Jahr folgten die gefiederten Gesellen triebhaft dem Ruf der Natur – die Balz lockte! Sie wollten nur noch auf den Wiesen tanzen und über dem Grase flattern, ihre kunstvollen Nester bauen und jubilierende Gesänge zur Ehre der Minne, zur Freude der Liebsten in Gottes weiten Himmel aufsteigen lassen. Es gab nur dieses eine Ziel: der holden Weiblichkeit zu beweisen, wer der schönste Tänzer, der tollkühnste Flieger, der beste Baumeister und der am meisten betörende Sänger sei. Am Ende würde sich erweisen, wer als Bräutigam auserwählt und zum Vater eines Nestes voller Küken würde.

***Würden die Reineckes ihren Familienausflug auf die Lichtung nicht bald zu einem Ende bringen, den Sangeskünstlern ginge ein ganzer Tag für die Brautschau verloren. Die Stimmen der schimpfenden Singvogelschar erklangen ungeduldiger und verzweifelter. Nicht mehr lange hin und die Greifvögel würden hoch über der waldigen Landschaft kreisen. Spähten sie erst in des Waldes Blößen nach Beute, war die minnetrunkene Zeit des Liebesgeplänkels vorüber.

***Davon gänzlich unbeeindruckt erkundeten die drei Füchslein die Welt unter ihren Pfoten. Die kleine Fuchsdame mit den weißen Sprenkeln auf der Nase erforschte gerade eine Hyazinthendolde, vorsichtig umkreiste sie das schwer-duftende Etwas. Haptschi! Erschrocken wich sie zurück. Verdutzt und beschämt schaute sich die kleine Entdeckerin nach der Mutter und ihren Brüdern um. Diese schienen jedoch alle selbst beschäftigt zu sein. Gleich der Fuchsmama zuvor übersah die junge Füchsin den reglos im Gebüsch kauernden Beobachter, der an sich halten musste, um nicht laut herauszuplatzen.

***Ein scharfes, kurzes Keckern ertönte und die Vogelstimmen verstummten jählings. Der durchdringende Warnruf der Fuchsmutter ließ alle aufhorchen. Die Fähe stand mitten auf der Lichtung und witterte mit aufgerichteter Schnauze himmelwärts. Aufgeregt zuckte ihre Rutenspitze. Dunkle Schattenrisse von Greifvögeln kreisten am Himmel! Hastig verschwand die Füchsin mit ihren Kleinen im Unterholz am Waldrand.

***Still und einsam blieb der heimliche Beobachter zurück. Kein Laut war zu hören. Die Wiese war leer, vollkommen verlassen. Die Füchse waren verschwunden, die Singvögel verstummt, die letzten Tropfen Morgentau glitzerten einsam und leise auf Hyazinthen und Narzissen.

***"Robert Lenz, du bist ein Glückspilz!", freute er sich still. "Ja, wem der HERR die rechte Gunst erweisen will, dem schenkt ER solche Momente. Die Schönheit von Mutter Natur kostet nichts und tröstet Herz und Seele. Frühling, ja du bist's! Dich hab ich vernommen!"

© ZAlfred 2011

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Kommentare zu diesem Text

Regentrude (52)
(23.06.12)
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 ZAlfred meinte dazu am 23.06.12:
Ich danke Dir, Trude, für die ** sowieso, und besonders für die Schilderung Deines Leseeindrucks. Dass ich hiermit Erinnerungen bei Dir emporsteigen lassen konnte, freut mich noch mehr. Diesen Text begriff ich immer als Hommage an Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff, dessen Wortkraft und Bildersprache mir auf ewig unerreichbar sein werden.
VlG
ZAlfred
KoKa (44)
(23.06.12)
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 ZAlfred antwortete darauf am 23.06.12:
Mach' mich nur weiter verlegen. Du zeigst mir, ich bin auf dem richtigen Weg. Dankeschön.
VlG
ZAlfred

 Lluviagata (23.06.12)
Haaaaaaaaaach ............ ♥ ♥ ♥

 ZAlfred schrieb daraufhin am 23.06.12:
Ach, Lluviagata, doch sooo ... *bigsmile*
Dankeschön.
wonderland (67)
(24.06.12)
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 ZAlfred äußerte darauf am 27.06.12:
Was hält Dich ab, Liebe Dorothee? Es ist doch schön, wenn mein Text Dich so inspiriert. Dankeschön.
VlG
ZAlfred
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